Im Kreuzverhör #58: Two Gallants - What The Toll Tells
07.11.2024 | Frank Diedrichs


Frank Diedrichs
Es ist schon etwas her, dass ich Two Gallants für mich entdeckt habe. Genau genommen muss es Ende der 2000er Jahre gewesen sein. Schon damals konnte ich mir nicht erklären, wie manche Musik es in meinen Fokus schafft. Hier trägt eindeutig dieser Google-Video-Channel namens YouTube die Verantwortung, dass in den Vorschlägen ein Clip aus "KuttnerTV" mit der Band und ihrem Album-Opener "Last Cruces Jail" auftauchte. Mich, der nach Studium und Berufseinstieg gerade wieder aus seinem musikalischen Dornröschenschlaf erwachte, faszinierte das Duo um Stephen Adams und Tyson Vogel, die nur mit Gitarre und Schlagzeug auf der Bühne standen. Auch der Text, eine blues-folkige Ballade, die sich in Las Cruces in New Mexiko abspielt, machte mit aufgrund seiner Erzählstruktur neugierig. Erst später erfuhr ich, dass hier in der Ich-Perspektive über den Gefängnisaufenthalt und den Tod Billy The Kid erzählt wird. Nach mehrmaligen ergebnislosen Versuchen, die CD bei EBay zu ersteigern, lag sie doch eines Tages im Briefkasten. Mich packte sofort das Intro von "Las Cruces Jail": Windgeräusche, die Ödnis der Landschaft New Mexikos entsprechend, leises Pfeifen eröffnen den Song. Und dann legt das Duo los. Auch nach fast zwanzig Jahren packt mich dieses Intro. Dann die Stimme Adams, die die Lyrics stark intoniert, leicht rauchig, gepresst, kratzig, kurz vor einer schweren Kehlkopfentzündung. Die kraftvolle Spielweise des Openers ist nicht typisch für das Album, vielmehr variieren die beiden in Tempo, Rhythmus und Einsatz ihrer Instrumente (stark in „16th St. Dozens“). Die Gitarre ist mal verzerrt, mal klingt sie sehr clean, mal dominiert die Bass- oder Snare-Drum, dann wieder das Scheppern der Becken. Dieses Zusammenspiel von Stimme und Instrumenten, von Streichern und Bläsern unterstützt, verweigert sich einer eindeutigen Genrezuschreibung, vereint aber vieles, was ich an Musik mag: Punk, Blues und Folk. "Las Cruces Jail" konnte ich erst vor einigen Jahren als Vinyl-Single ergattern. Und wenn sich die auf dem Plattenteller dreht und Billy The Kid versucht, sich aus seiner aussichtslosen Situation zu befreien, weht ein Hauch von US-amerikanischer Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus den Boxen: Billy The Kid, der Outlaw, und Pat Garrett, der Sheriff, der ihn erschoss.

Mark Schneider
Es wird nasskalt in Deutschland. Der Herbst ist da. Was könnte da schöner sein, als es sich mit einem heißen Süppchen und einem Kreuzverhör-Album zu Hause gemütlich zu machen. Vieles - sollte man meinen. Oder?
"What The Toll Tells" von Two Gallants, ich habe von Band und Album vorher noch nie gehört, beginnt mit einigen Sekunden Windesrauschen und einem Piepton. Ich habe kurz Angst, es folgt wieder ein Album auf dem nicht mehr passiert als willkürliche Geräusche, die mir dann jemand dann als "Musik" bepreisen möchte. Das haben wir ja alles schon erlebt hier. Doch dann: Eine Gitarre! Hallelujah! Knapp eine Minute lässt mich Franks Albumvorschlag noch zappeln bis ich erkenne dass es wirklich um ECHTE Musik geht. Hallelujah! Die Platte ist aus dem Jahr 2006, klingt aber als hätte sie bereits einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Und wenn Frank oben vom Ende seines Studiums erzählt, meine ich mich in seine Situation und das Finden dieses Albums hineinfühlen zu können, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch so weit von dieser Lebenssituation weg war, wie "What The Toll Tells" davon von mir nicht als absolute Erweiterung meines musikalischen Horizonts betitelt zu werden. Wieder einmal brauchte ich einen zarten Schubser hin zu etwas mir noch nicht begegnetem, um zu erkennen, dass ich es gerne mag. Nicht für ein so inniges Verhältnis wie ich es zur Musik anderer Bands und Künstler*innen pflege, aber für ein kurzes Hallo zwischendurch auf jeden Fall.

Dave Mante
Ich habe nun länger nicht beim KV mitgemacht, da mir Frank allerdings privat schon so einiges empfohlen hat, was dann doch ziemlich gut meinen Nerv getroffen hat, hab ich mal wieder zugestimmt ein paar Worte zu schreiben und nun ja, erneut bin ich beeindruckt davon, dass Frank immer wieder solche Perlen rauskramt. Two Gallants klingen ein stückweit so, als hätte Gerrard Way von My Chemical Romance ein Fable für Indie-Folkrock entwickelt und somit „What The Toll Tells“ eine ganze Stunde lang mehrere Geschichten im Stil von aufgepeppten Worksongs geschrieben, ein ums andere Songthema dreht sich hier um Workingclass und eben die, welche dieser überstellt sind. Dabei lässt sich auch die Metapher zur Sklaverei durchaus schnell erkennen. Äußerst gut gefällt mir jedoch der Hang zur Abwechslung. Immer wieder wechselt ein Song von jetzt auf gleich und aus der ruhigen Melancholie wird ein lauter, schon fast punkiger Track. Das Album geht dazu fast eine ganze Stunde und nicht nur deswegen braucht es Zeit, um sich zu entfalten. Normalerweise würde ich das durchaus kritisieren, jedoch hatte ich hier kaum eine Ermüdungserscheinung und ich werde definitiv nochmal zurückkommen!

Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.