Aydo Abay spricht über „Love And Distortion“: Im Angesicht der Oberflächlichkeit
16.06.2018 | Jakob Uhlig
Aydo Abay hat eine besondere Fähigkeit: Er kann mit ausgesprochener Lockerheit in der Stimme über sehr ernste Themen sprechen. Ein wenig Resignation schwingt aber trotzdem mit, während er die Entwicklung der aktuellen Weltlage Revue passieren lässt: „Ich bin in den 90ern der geworden, der ich bin. Da waren wir eine Generation des Aufbruchs. Die Menschen sind näher zusammengerückt, der eine hat viel mehr auf den anderen geachtet. Ich dachte, wir wären auf diesem guten Weg glücklich, aber es scheint so, als wären viele Leute verstört, wenn man aufeinander zugeht oder Menschen so sein lässt, wie sie sein wollen.“ Die neue Platte seiner Band stellt daher nicht zufällig in ihrem Titel zwei eigentlich unvereinbare Begriffe gegenüber, die der Deutsch-Türke aber immer stärker miteinander korrelieren sieht. „Liebe wird gerade durch Verzerrung verkauft. Diese beiden Seiten rücken immer näher aneinander und das mittlerweile so weit, dass von der Liebe fast nichts mehr übrig ist.“
Aydo Abay ist niemand, der seine politischen Ansichten mit unmittelbarer Direktheit in seinen Songs verarbeitet, aber er ist trotzdem ein Mann mit sehr klaren Meinungen. Das zeigt sich zum Beispiel im Jahr 2016 bei einem absurden Auftritt im ZDF Fernsehgarten, bei dem der Sänger inmitten feuchtfröhlich neben dem Takt klatschender Rentner ein „FCK NZS“-Shirt trägt. Deswegen ist auch „Love And Distortion“ kein offensiv politisches Album, aber eines, in dem Schönheit und Harmonie immer wieder durchbrochen werden. So auch in der ersten Single „Plastic“, die Abay mit Videomaterial von Bodybuildern inszenieren. „Es ist schon krass, wie sehr der Mensch sich gerade selbst zur Schau stellt. Das kennt mittlerweile gar keine Grenzen mehr. Ich habe gerade mit jemandem über Insta-Stories von Influencern gesprochen. Da tun sich ja wirklich Abgründe auf. Was diese Menschen teilweise von sich geben, erschüttert mich. Als Musiker wirst du fast schon gezwungen, auch so zu handeln, damit du deinen Kreis an Followern sammelst. Ich will aber so nicht sein.“ Die Diskrepanz zwischen Aydo Abay und dem Haschen nach Reichweite kommt auch im Text des Songs zum Ausdruck: „Oh my god, I’m so fantastic/ I’m under pressure baby, hiding my spastics/ But the more you see, the more it’s plastic/ Great expectations honey, I’m supersonic“ heißt es da – ein erdrückendes Exempel falscher Offenheit, das kontrapunktisch zum düsteren Thema aber auf dem mit Abstand geradlinigsten Pop-Song von „Love And Distortion“ stattfindet.
„Plastic“ wirkt gerade aufgrund dieser pragmatischen Konstruktion fast schon wie ein Fremdkörper, der für das Album dabei aber auch ebenjenes verzerrte Gesuch nach Öffentlichkeitswahrnehmung repräsentiert, das Aydo Abay selbst kritisiert – und deswegen mittlerweile etwas bereut. „Wir haben bei diesem Album sehr schubladig gedacht. Als wir schon alle Songs fertig hatten, fiel uns auf, dass wir auf der ganzen Platte überhaupt keine Pop-Single hatten. Also haben wir eine geschrieben, nach allen Vorgaben, die es da so gibt. Und jetzt spielen sie den Song noch nicht einmal (lacht). In Zukunft werden wir deswegen auf so etwas wohl nie wieder achten.“ So würde „Plastic“ als Song beinahe wie ein ironisches Statement wirken, wenn er nicht tatsächlich derart kalkuliert entstanden wäre. Gerade deswegen untermauert der Track Abays Aussage aber umso fester, denn er lässt einen kurzen Moment der Schwäche durchschimmern, in dem die Band den abgeschworenen Dämonen doch kurz nachgeben muss.
„Plastic“ wirkt aber erst deswegen in derartiger Deutlichkeit, weil Abay sich sonst nicht mit schematischen Kompositionen zufriedengeben, sondern auf „Love And Distortion“ mehr Experimente denn je wagen. Ihr ursprünglich erklärtes Klangumfeld „Post-Pop“ sieht Aydo Abay mittlerweile trotzdem kritisch: „Ich weiß selbst gar nicht, was ‚Post-Pop‘ eigentlich sein soll. Ich dachte immer, es sei die Erweiterung von Pop mit der Sphäre von Post-Rock-Elementen, aber irgendwie haben wir uns da gegen eine Wand gefahren.“ Trotzdem ist diese Definition auf Abays Zweitwerk nicht von der Hand zu weisen. Immer wieder fällt das Quartett in breit angelegte Sound-Landschaften, die den unweigerlich vorhandenen Pop-Appeal der Songs in dichten Nebelschwaden verschwimmen lassen und so auch klanglich die Konturen einer Welt zwischen „Love And Distortion“ zeichnen.
Abays zweite Platte wagt noch mehr als ihr Vorgänger „Everything Is Amazing And Nobody Is Happy“, die Band fügt sich auf ihr langsam immer klarer zusammen. Auch für Aydo Abay selbst scheint die Mission daher langsam deutlicher definiert: „Wir haben uns bei diesem Album an allen Ecken mal probiert, es sind alle Musikrichtungen darauf vertreten, die uns irgendwie nahestehen. Ich glaube, dadurch haben wir uns jetzt auch gefunden. Vielleicht führt das dazu, dass die nächste Platte etwas homogener wird, aber genau kann ich das jetzt eigentlich noch nicht sagen.“ Und da schlägt Abays Werk schlussendlich doch wieder den Bogen zu seiner Kernaussage. Es ist ein Statement gegen Schema F und gegen gesichtslose Fabrikerzeugnisse, die selbst in der Kunst immer häufiger an der Tagesordnung stehen. „Love And Distortion“ erfüllt seinen pädagogischen Auftrag deshalb mit dem Prädikat „besonders wertvoll“. Und dürfte auch für die Band selbst ein lehrreiches Kapitel gewesen sein.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.