The Pariah sprechen über ihr Debütalbum „No Truth“: Der Tod ist die einzige Wahrheit des Lebens
11.04.2019 | Merten Mederacke
Vokalist Henning Begemann und Bassist Rouven Kircher nehmen sich vor der Show auf der Abschiedstour von Napoleon in Bochum Zeit, um über „No Truth“ zu philosophieren. Im Hintergrund läuft Fußball auf viel zu großen Bildschirmen und auf dem Tisch steht mehr Kaffee als Bier. „Der Tod ist die einzige Konstante im Leben, das einzige, was hundertprozentig sicher ist“, ist die erste Erkenntnis, mit welcher Frontmann Henning das Gespräch quasi eröffnet. Dieser Einstieg in das Spannungsfeld zwischen der einen alleinigen Wahrheit, der eigenen Endlichkeit und der Auffassung, es könne so viele Wahrheiten wie Menschen geben, führt letztlich zur philanthropischen Einstellung „Leben und leben lassen“. Ob man sich letztlich besser damit anfreunden kann, dass es 7,6 Milliarden Wahrheiten oder eben nur diese eine gibt, ist Sache eines jeden Einzelnen. The Pariah aber haben ihr Album plakativ „No Truth“ genannt.
„Natürlich klingt das plakativ. Aber dadurch beschäftigt man sich vielleicht eher damit“, erzählt Henning. „Aber wir alle suchen irgendwie nach der Wahrheit und das größte Ziel ist es vielleicht, seine persönliche Wahrheit zu finden. Aber weil das so komplex ist, gibt es diese eine Wahrheit höchstwahrscheinlich gar nicht. Wenn jeder eine eigene Wahrheit haben kann, ist die eine große Wahrheit vermutlich einfach, dass es keine gibt. Außer die, dass wir sterben und die vereint alle Menschen miteinander.“ Keine Wahrheit als Konsequenz aus der Unmenge an möglichen Wahrheiten – alles ist möglich, nichts ist wahr. „Das ganze Album unter einen Begriff zu fassen war schwierig“, gibt Henning zu. „Aber wir beschäftigen uns mit den Dingen um uns herum und eine äußere Erscheinung kann ja auch schon eine Art Wahrheit oder Unwahrheit sein. Es ist immer spannend, was hinter den Fassaden steckt.“ Die Schwierigkeit, einen Begriff für eine Summe an Songs zu finden, besteht ja meistens. Und ebenso ergibt sich doch immer irgendein roter Faden, wenn man sich das Endprodukt dann ansieht. Umso spannender ist es, wenn diese Quintessenz dann „No Truth“ heißt. Und „No Truth“ ist alles andere als ein geplantes Konzeptalbum. „‚No Truth‘ war einfach das, was aus der Summe der Songs übrig geblieben ist. Wir haben gesehen, dass wir am Ende trotzdem nicht schlauer sind als vorher, unabhängig davon, ob wir uns mit persönlichen oder politischen Sachverhalten beschäftigt haben“, resümiert Rouven. „Letzten Endes haben wir die eine Wahrheit auch noch nicht gefunden.“ „Suchen wir noch weiter? Oder haben wir aufgegeben? Ich weiß es nicht. Das ist auch eine Wahrheit, die wir noch finden müssen“, ergänzt Henning mit Blick auf die Zukunft.
Die fünf Jungs in Bottrop sind irgendwann einfach übriggeblieben. Andere Projekte lösten sich auf, Mitglieder zogen weg oder verpflichteten sich anderweitig. „Wir waren der Rest“, fasst Rouven zusammen. „Die Musikszene um uns herum hat sich quasi aufgelöst und wir standen zu dritt da und brauchten einen Sänger. Ursprünglich wollten wir ein Pop-Punk-Projekt starten, aber Henning kann nicht singen.“ Bottrop ist zwar keine Hochburg der Punk- oder Hardcoreszene, aber der Ruhrpott hatte schon immer ein Herz für Außenseiter und Freaks und durch die umliegenden Städte wie Essen wurden die Mitglieder von The Pariah in die ansässige Szene sozialisiert und vernetzt. Der Bandname „The Pariah“ bedeutet übersetzt so viel wie Außenseiter oder Verstoßener. Er ist überdies auch angelehnt an das indische Wort „Paraiyar“. Paraiyar steht für die Kastengruppe der nicht gesellschaftstauglichen „Unberührbaren“ in zwei südindischen Bundesstaaten. Die, die nicht dazugehören, mit denen niemand wirklich etwas zu tun haben will. „Wenn man sich die Gesellschaft so ansieht und bedenkt, worauf die große Masse steht, dann ist das was, wo wir nicht unbedingt so mitmachen wollen“, gibt Henning preis. Doch niemand hat heutzutage eine reine Beobachterrolle inne. Jeder nimmt auf irgendeine Weise Teil an der Gesellschaft. Dadurch gerät man immer wieder in Konflikt mit sich und seiner Umgebung, weil man unter Umständen tut, was man nicht tun will oder sich irgendwo befindet, wo man eigentlich lieber weg möchte. „Wenn ein Kollege eine Party schmeißt gehst du da halt hin, weil du kein Arsch sein willst“, bringt er als Beispiel vor. „Aber du merkst schnell, dass du mit dem Großteil der Leute nichts anfangen kannst. Und irgendwann stehst du dann wütend in der Ecke und fragst dich, wie man sowas toll finden kann.“ Adaptiert man dieses Bild auf die gesellschaftliche Ebene, lädt es gleich viel weniger zum Schmunzeln ein. Denn während man im Club den Leuten verständnislos beim Schwingen des Tanzbeins zu David Guetta zusehen kann, so spielt sich auf der gesellschaftlichen Ebene mehr Konsequenzen ab. „Da merkt man schnell, dass das nicht der richtige Ort für einen ist. Und dan stehst du halt herum und kannst zugucken, wie sich alle verhalten“, fährt Henning fort. Und Rouven ergänzt: „Es gibt Sparten und die sind klein. Mitunter eben so klein, dass Menschen nicht glauben, dass es okay ist, sowas zu machen.“
Vom schmollend in der Ecke stehen hat sich bisher jedoch selten etwas verändert – weder für einen selbst noch für die anderen. „So wirklich viel ‚Geh raus und verändere was!‘ kommt bei uns auch in den Texten nicht vor“, fasst Henning das Album zusammen. „Wir verfolgen mehr den Ansatz: ‚Überdenk nochmal dein Verhalten. Denk nochmal drüber nach.‘ Vielleicht kommen Menschen dann von selbst drauf, was daran jetzt nicht so pralle war.“ „Das Problem ist nur, dass die Menschen, die wir damit ansprechen wollen, unsere Musik nicht hören“, ergänzt Rouven lachend. Aus diesem Grund wollen die fünf Jungs auch in Form von „Gegen Nazis“-Ansagen auf Hardcoreshows keine Eulen mehr nach Athen tragen. „Es gibt auch noch andere Probleme als Nazis. Es gibt Dinge, die tiefer verwurzelt sind – Alltagsrassismus und Vorurteile, die immer wieder bedient und akzeptiert werden zum Beispiel“, erklärt Henning. The Pariah bezeichnen sich nicht als politische Band, aber sie scheuen auch nicht, unangenehme Dinge an- und auszusprechen, wenn der Schuh drückt. „Regression“ und „Silent Birds“ sind zwei mächtige politische Statements. „Silent Birds“ legt den Fokus dabei losgelöst vom politischen Links-Rechts-Spektrum auf Gesellschaftskritik, während „Regression“ eine klare Stellungnahme gegen Faschismus und Rassismus ist. „Es ist egal, was du glaubst. Wenn bestimmte Winde in der Arktis aufhören zu wehen, dann haben wir alle ein richtig dickes Problem“, konstatiert Henning. Mit „Regression“ hingegen positioniert sich die Band klar ab von allem menschenfeindlichen Gedankengut. Als besonderes Schmankerl unterstützt Tobias Rische, seines Zeichens Shouter bei Alazka, die Vokalfraktion zusätzlich. Mit sirenengleicher Prägnanz meldet er sich zu Wort:
„If they seek confrontation well here I stand alone
If you long for violence come and throw your fucking stone
The victims change but the actors stay the same
Like we didn't see this before“
Bereits auf The Pariahs erster EP „Divided by Choice“ gastiert Tobias Rische. Die Bekanntschaft besteht aufgrund regionaler Nähe und musikalischer Verbundenheit auch durch gemeinsame ehemalige Bandprojekte seit mehreren Jahren. Auch live trägt er gerne seinen Teil zu diesem Statement bei. Doch neben solchen inzwischen nicht mehr nur regionalen Größen finden sich auch zwei weitere prominente Featuregäste auf „No Truth“. In „Comfort Zone“ brüllt sich Daan Nieboer von 18 Miles die Seele aus dem Leib und in „Surged“ gibt sich Brendan Murphy von Counterparts die Ehre. 18 Miles spielten auf der EP-Releaseshow auf, eine Freundschaft entstand und später kam eines zum anderen. „Ich bin auch großer Hip-Hop-Fan und Hip-Hopper laden ständig Freunde auf ihre Alben ein. Da hatten wir auch voll Bock drauf“, verrät Henning. „Und das mit Brendan war ein Wunschtraum. Der Kontakt kam zustande, als Alazka mal mit Counterparts gespielt haben und Tobias Brendan einen Song von uns gezeigt hat. Auf einer Show in Belgien standen wir dann wie verschüchterte Schuljungen und haben rumgedruckst, ob er vielleicht Lust hat, bei uns mitzusingen.“
Die vorab veröffentlichten Singles kommentierte die Band in einem Track-by-Track-Video. Dabei bleiben auch Tracks wie „Comfort Zone“ und „Awake“ durchaus hängen. Und letzterer stellt sich als einer der persönlichsten auf dem Album heraus. „Ich lag nachts im Bett und die Gedanken kreisten vor sich hin, ich konnte nicht einschlafen. Ich habe gemerkt, dass alle Gedanken in irgendeiner Form mit mir zu tun haben. Da habe ich mich selbst gefragt, was ich wohl für ein Egozentriker bin, dass ich ernsthaft hier liege und nicht schlafen kann, weil ich über mich selbst nachdenke. Dieses Gefühl wollte ich in dem Song festhalten“, offenbart Henning. „Comfort Zone“ bewegt sich in einem ähnlich unangenehmen Bereich – sofern man sich darauf einlässt. Dabei versteht Henning unter einer Komfortzone etwas ein wenig anderes, als man gemeinhin glaubt. „Es kommt vor, dass man sich vermeintlich innerhalb seiner Comfort Zone mit jemandem unterhält und sich trotzdem unwohl fühlt, weil man zum Beispiel etwas Unangenehmes besprechen muss. Dann wird lang um den heißen Brei geredet und am Ende weißt du weder, was du sagen sollst, noch, was du eigentlich verstecken wolltest. Das sieht vielleicht nach Comfort Zone aus, aber ist was ganz anderes.“ „Für mich steckt da auch der Weg des geringsten Widerstandes drin. Irgendwo ankommen zu können, ohne etwas wagen zu müssen und ohne ein Risiko eingehen zu müssen, bringt dich halt nicht wirklich vorwärts. Da bleibst du immer wo du bist“, fügt Rouven hinzu. Auch die Frage nach dem eigenen Befinden, vor allem als Begrüßungsfloskel eingesetzt, wird häufig mit einem „Alles gut“ oder „Ja, muss“ abgetan. Beantwortet man diese jedoch ehrlich á la „Heute geht’s mir echt bescheiden“, stößt man dem Gegenüber schnell vor den Kopf oder bringt ihn in Verlegenheit. Ein gutes Gespräch kommt da selten zustande. Vielmehr steht der seine Befindlichkeiten anzeigende als schwächlich, aufdringlich oder extrem extravertiert da. „Aber da sind wir auch wieder bei No Truth“, schlägt Henning den Bogen zurück zum Anfang. „Meist wissen beide in der Situation, dass das „Gut, danke“ nicht stimmt. Deswegen: Keine Wahrheit.“ Wie gut, dass The Pariah in „Strangled“ zugeben können, dass es ihnen auch mal richtig ausweglos miserabel geht:
„I'm getting strangled by my own fears
I call for help but there's no one out here.“
Merten Mederacke
Merten hat Soziologie, Politik und Philosophie studiert. Seit Jahren treibt er sich auf Konzerten und Festivals herum und fröhnt allem, was Gitarre, Rotz und Kreativität so ergießen. Bei Album der Woche versucht er stets, den Funken seiner Passion auf jeden Lesenden überspringen zu lassen.