“I Saw The TV Glow”: Wenn Indie zu Indie findet.
19.06.2024 | Kai Weingärtner
Was wären “Interstelllar” oder “Dune” ohne die ikonischen Scores von Hans Zimmer? Eine Frage, die sich sowohl im Film- als auch im Musikkontext sicherlich schon bis zum Erbrechen gestellt wurde. Auch populäre Musik fand schon unzählige Male prominent den Weg auf die mehr oder weniger große Leinwand, man denke nur an “Highway to the Danger Zone”in Top Gun oder den Pixies-Klassiker “Where Is My Mind” in Finchers “Fight Club,” dem Lieblingsfilm aller 16-jährigen Prä-Kommunisten. David Bowies “Heroes” war für die Verfilmung des Romans “The Perks Of Being A Wallflower” so wichtig, dass man ihm beinahe eine der Hauptrollen zuschreiben könnte. Aber neulich brachte mich die folgende Frage eines Arbeitskollegen dann doch ins Grübeln: Kennt ihr Filmsoundtracks, die aus originärer Musik bestehen und weder orchestral noch instrumental sind? Als erstes landete mein Hirn beim jetzt schon nicht mehr aus dem Internet wegzudenkenden Soundtrack von Greta Gerwigs Blockbuster “Barbie”. Beim Nachhören stellte sich dann wiederum schnell der Eindruck ein, dass es sich hier eher um Musical-Einlagen handelt, die ohne den Film als Begleitung eher wie eine sehr zerstückelte Mood-Playlist wirken, nicht wie ein zusammenhängendes Werk. Wo ist also das tatsächliche Album zum Film, das auch ohne letzteren funktioniert und nicht bloß als schmuckvolles Beiwerk bereitgestellt ist?*
Sprung zum Februar 2024: Ich sitze im großen Saal des Zoo-Palasts zur Premierenvorstellung des neuen A24-Films im Rahmen der Berlinale. “Das musst du dir angucken", waren sinngemäß die Worte einer lieben Freundin mit Insider-Infos im Vorfeld zum Festival. Ich hatte noch keine Ahnung, was mich in den nächsten knapp zwei Stunden erwarten würde. Selten hat mich ein Film – nicht zuletzt auch wegen der fantastischen Musik und vor allem dem unfassbaren Sounddesign – so sehr überfahren wie Jane Schoenbruns “I Saw The TV Glow”. Wer das Filmstudio A24 kennt und mag, fühlt sich ob des Trailers sowieso schon abgeholt. Indie-Horror kann das US-Studio, das sich in den letzten zehn Jahren zum unangefochtenen Everybody’s Darling gemausert hat, Ari Asters “Midsommar” ist nur ein Beispiel dafür. “I Saw The TV Glow” ist der zweite Film in einer inoffiziellen Trilogie und der Nachfolger im Geiste zu Schoenbruns “We’re All Going To The World’s Fair”. In “TV Glow” dreht sich alles um die Metapher des “Egg-Crack”, also dem Moment, in dem eine Person ihre Trans-Identität für sich erkennt. Dieses Bild zieht sich durch den Film wie ein ständig unter der Oberfläche brodelnder Vulkan, dessen Ausbruch man sich beim Ansehen mehr und mehr herbeisehnt, weil es die Betroffenen zusehends mehr zerreißt. An dieser Stelle keine weiteren Worte zum Inhalt und stattdessen einen unbedingte Empfehlung: Schaut euch diesen Film im Kino an, sobald er endlich in Deutschland erscheint! Nur eine Info noch: Fred Durst (ja, der Fred Durst) spielt den Angry Dad in diesem Film. Wenn euch das nicht neugierig macht, weiß ich auch nicht.
Nun aber zur Musik. Die besteht neben den durchaus vorhandenen instrumentalen Abschnitten, eher wabernde Soundbetten als ikonische Themen, im Kern aus den 15 Songs auf dem gleichnamigen Album, das es bereits seit US-Release des Films Anfang Mai überall zu hören gibt. Ein Blick auf die Tracklist offenbart, dass sich das Who-Is-Who der queeren Gitarrenmusik hier die Klinke in die Hand gibt: King Woman, The Weather Station, Phoebe Bridgers und Caroline Polachek. Die Star-Besetzung mal außen vor – die hatte schließlich auch das “Barbie”-Album im letzten Jahr schon –, das viel größere Kunststück von “I Saw The TV Glow” ist die Stimmigkeit der Platte als Gesamtwerk. Die wird sicher auch ein Stück weit dadurch bedingt, dass es sich hier eben nicht um ein Musical handelt, bei dem die Handlung des Films zwangsläufig auch in der Musik ausgetragen wird. Vielmehr stützen die Songs die düstere Melancholie, die der Film zu vermitteln versucht, bewahren dabei aber auch einen unverkennbaren Moment des Auf- und Ausbruchs. Angst, Wut, Verzweiflung und Verwirrung finden sich allesamt in der Musik wieder. So organisch fühlt sich das ganze auch deshalb an, weil es eben im Film um Themen geht, die die Musiker:innen auch außerhalb dieses Projekts in ihren Songs behandeln. Es wirkt einfach, als hätten sich da Künstler:innen über Genres und Medien hinweg (gut) gefunden und beschlossen, zusammen etwas Neues zu machen.
Wie diese Songs entstanden, erzählt Schoenbrun im Podcast Filmmaker’s Toolkit von IndieWire. Demnach entstanden die Songs in enger Absprache und unter konstanten Referenzen zu 90er-Künstler:innen, die in den TV-Serien der damaligen Zeit auftraten. Allen voran die Smashing Pumpkins mit ihrem Album “Mellon Collie And The Infinite Sadness”. Ein Album, das dem Film auf mehr als eine Weise seinen Stempel aufdrücken konnte (mehr dazu wäre ein Spoiler). Und diese Bezüge leuchten umso mehr ein, wenn man Schoenbrun davon erzählen hört, inwiefern die Artists auf dem Album auf ähnliche Weise ein Gefühl von Unwohlsein und dem Wunsch des Abhauens in die Suburbs der amerikanischen Städte vermitteln, wie es damals Billie Corgan und Co. taten. Zu all diesen konzeptionellen Sachen und der enormen Liebe, die offenbar in diesen Soundtrack geflossen ist, kommt am Ende des Tages noch die eine Sache, die dem ganzen Projekt die Krone aufsetzt: Es ist einfach ein verdammt gutes Album!
*Fußnote: An dieser Stelle kurz die obligatorische Biffy-Clyro-Intervention meinerseits (wenn ich so weitermache, muss ich bald eine Joe-Gedächtnis-Kolumne über diese Band starten), denn auch das Trio aus Ayrshire haben 2019 ihr Album “Balance Not Symmetry” für den gleichnamigen Film, geschrieben von Regisseur Jamie Adams und Simon Neil himself, herausgebracht. Das Album ist ein sträfliches missachtetes Stück der Diskographie der Schotten, ersetzte es doch seiner Zeit den Biffy-typischen “Companion Record” zum 2016 erschienenen “Ellipsis”. Die Companion-Records gehören seit 2007 zum festen Repertoire der Band und beinhalten neben B-Seiten und dem gelegentlichen Cover die oftmals schrägeren, verschrobenen und weniger pompösen Stücke, die im Schreibprozess nicht den Weg auf die jeweilige Platte gefunden haben. Und auch auf “Balance Not Symmetry” finden sich viele sehr interessante Experimente, die sich vor allem durch das Spiel mit elektronischeren, artifiziell kühlen Sounds auszeichnen. Große Empfehlung also an dieser Stelle!
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.