Musikalische Abwege: Von Workaholics und Wandervögeln
31.03.2024 | Kai Weingärtner
So viel vorweg: Diese Liste erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt mit Sicherheit noch zig weitere interessante und hörenswerte Side-Hustles zu erkunden. Das hier sind nur diejenigen, die mir spontan aufgefallen sind. Ein deutliches Bias offenbart sich auch hier in der Geschlechterparität – ich muss mir wohl mal wieder die Frage stellen, warum mir scheinbar so wenig nicht-männliche Künstler:innen unterkommen. Ich werde jedenfalls weiterhin meine Ohren gespitzt halten auf der Suche nach den besten Nebenprojekten. Jetzt aber Buddha bei die Fische, hier kommen meine liebsten musikalischen Abwege:
Simon Neil
Überraschung! Kein Artikel ohne Biffy-Bezug. Der (according to me) beste lebende Songwriter und Sympathie-Kanone Simon Neil kommt natürlich nicht mit einer grandiosen Kapelle aus. Und so begab es sich im Jahre 2003, dass sich Neil und JP Reid (der ebenfalls Teil der Band Sucioperro ist) zum Projekt mit dem klangvollen Namen Marmaduke Duke zusammenfanden. Das erste Album “The Magnificent Duke” erschien knapp zwei Jahre später und bietet auf 18 Songs eine Inkarnation von Simons Songwriting, dass die Weirdness-Regler, die zu dieser Zeit schon bei Biffy Clyro am Anschlag standen, gleich ganz aus dem Gewinde schraubt. Krächzende, semantisch kaum ausmachbare Lyrics beißen sich mit elektronischen Sound-Glitches. Dazu kommt ein bisschen Industrial-Vibe und ab und zu mal sowas wie eine Mandoline. Marmaduke Duke war als Trilogie angelegt, in der drei Alben den Soundtrack zu drei Manuskripten eines gemeinsamen Freundes von Neil und Reid bilden sollten. Teil zwei, “Duke Pandemonium” erschien 2009 und wartet mit grandiosen Songtiteln wie “Rubber Lover” oder “Erotic Robotic” auf. Mit “The Death Of The Duke” soll das Projekt in einem einzigen, live aufgenommenen Song sein Finale finden. Bisher warten wir allerdings vergebens auf Informationen hierzu. Schließlich sind ja beide Mitglieder von Marmaduke Duke vielbeschäftigte Musiker, und zumindest Simon Neil vertreibt sich aktuell die Zeit mit einem weiteren Projekt.
Die Idee für Empire State Bastard ist ähnlich alt wie die für Marmaduke Duke, allerdings brauchte es ein wenig mehr Zeit und eine globale Pandemie, um Simon Neil und Biffy-Live-Gitarrist Mike Vennart dazu zu bewegen, das Debüt-Album “Rivers Of Heresy” endlich zu schreiben. Die beiden langjährigen Freunde teilen eine Faszination für extreme Musik, und genau die sollte sich in dieser Band entladen. Zusammen mit Dave Lombardo (ja genau, der von Slayer) und Naomi Macleod wollen Neil und Vennart nicht weniger als die “nastiest music ever” produzieren. Und auf welch wunderbare Weise ihnen das gelungen ist! ESB ist ganz großes Riff-Kino. Mike Vennart versteht es hervorragend, aus Gitarren Häuserwände aufzutürmen und diese kontrolliert einstürzen zu lassen, während Neil die meiste Zeit damit beschäftigt scheint, seinen Kehlkopf durch den Hals auf die Bühne zu befördern. Bekommt man bei Biffy Clyro-Shows immer dann Gänsehaut, wenn er einen seiner heiseren Schreie loslässt, so stellt sich dieses Gefühl hier immer dann ein, wenn Simon mal in den Clean-Gesang wechselt.
Mike Vennart
Das zweite Viertel von ESB ist ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt. Der im englischen Yorkshire geborene Gitarrist ist nicht nur der Kopf hinter ESB und langjähriger Live-Gitarrist für Biffy Clyro, er war auch Teil der in Manchester gegründeten Post-Rock-Band Oceansize, mit der er zwischen 1998 und 2011 vier Alben und eine handvoll EPs veröffentlichte. Oceansize waren bekannt für ihre grummeligen, verschrobenen Instrumentals und intensiven Live-Performances. Leider sollte genau eine solche das Ende der Band bedeuten. Nach einem verhunzten Konzert in Warschau verließ Richard Ingram die Band. Grund dafür, so Vennart, war wiederholter Drogenmissbrauch mindestens eines der Bandmitglieder. Ihre Musik haben sie zum Glück zurückgelassen, und gerade das zweite Album “A Very Still Movement” ist auch heute noch enorm hörenswert. Einige der Mitglieder von Oceansize taten sich unter Mike’s Solo-Projekt Vennart wieder zusammen und releasten 2015 das Album “The Demon Joke”. Es folgten zwei weitere Alben und einige EPs und Singles, und das neueste Album “Forgiveness & the Grain” erschien erst im Februar 2024.
Dave Grohl
Wenn ihr jetzt denkt: “Schön und gut, aber drei Bands über eine ganze musikalische Karriere zu verteilen ist jetzt auch nicht gerade ein Kunststück”, dann let me introduce you to Dave Grohl. Okay fair, der Typ braucht wirklich keine Vorstellung mehr. Es ist immer noch ein bisschen absurd, aber der Drummer der größten Rockband der 90er ist gleichzeitig Sänger und Gitarrist der (arguably) größten Rockband der 2000er. Mit dieser Erfolgsquote können wohl die allerwenigsten Musiker:innen mithalten. Aber damit nicht genug, Grohl war ja auch noch Teil der Supergroup Them Crooked Vultures zusammen mit Josh Homme und John Paul Jones, und zwischen 2002 und 2003 trommelte er bei der britischen New-Wave-Band Killing Joke. Ach ja, und dann gab’s ja noch Probot. Unter diesem Namen veröffentlichte Grohl im Jahr 2004 ein zehn Songs langes Metal-Album, auf dem er ALLE Instrumente selbst gespielt hat, und sich dann noch aufstrebende Underground-Metaller wie Max Cavalera von Soulfly, King Diamond oder einen gewissen Lemmy Kilmister dazuholte. Aber mit diesen vier musikalischen Ausflügen ist Grohl immernoch eher einer der amateurhaften Band-Jongleure. Les Claypool, Zylinder-Afficionado und Kult-Bassist ist beispielsweise maßgeblicher Bestandteil von sieben Bands, deren Namen allesamt klingen wie von einer KI generiert, die ausschließlich mit “Alice im Wunderland” und den Post-Trip berichten der ersten LSD-Konsument:innen gefüttert wurde: Primus, Les Claypool and the Holy Mackarel, Colonel Les Claypool's Fearless Flying Frog Brigade, Oysterhead, Colonel Claypool's Bucket of Bernie Brains, Electric Apricot, und natürlich Sausage.
Maynard James Keenan
Wer mal länger mit mir Zeit verbracht hat, wird bestimmt schon in den Genuss eines mindestens 15-minütigen Vortrags über die Genialität des Tool-Songs “Lateralus” gekommen sein (der basiert nämlich auf dem mathematischen Konzept der Fibonacci-Folge, krass oder?!). Tatsächlich war es aber eine andere Band von Tool-Frontmann Maynard James Keenan, die es mir ursprünglich angetan hatte. Im Jahr 2018 war ich auf dem Rock Am Ring Festival und alle Freund:innen, mit denen ich da war, wollten sich lieber einen weiß gekleideten Sektenführer namens Jared Leto angucken. Stur wie ich bin ging ich dann alleine zur Show von A Perfect Circle, und es war eine der besten Entscheidungen meines musikkonsumierenden Lebens. Noch nie vorher war ich so sehr in den Bann einer Band gezogen wie an diesem Abend. Man hat Maynard die gesamten 75 Minuten vor lauter Rauch quasi nicht gesehen, aber die Soundwelt, die A Perfect Circle da aufgebaut haben, gehört zum schönsten und gleichzeitig unheimlichsten, das ich je auf einer Bühne gesehen habe.
Ach ja, und natürlich sind zwei Bands nicht genug, deswegen ist Keenan neben Winzer und Restaurant-Besitzer auch noch Sänger von Puscifer, einer Band, die entweder ein sehr dummer oder ein sehr schlauer Witz ist. Je nachdem, ob man Maynard James Keenan leiden kann oder nicht. Ihr könnt euch ja denken, zu welcher Demographie ich da gehöre…
Phoebe Bridgers
Wie, Frauen können auch in mehreren Bands sein?! Wie eingangs bereits erwähnt birgt mein Musikgeschmack zumindest im Bereich der Mehrfachbesetzungen eine erschreckende Schlagseite, aber auf die Ausnahme-Songschreiberin Phoebe Bridgers bin ich dann doch noch selbst gekommen. Zuletzt in aller Munde war Bridgers mit ihrer All-female Supergroup boygenius zusammen mit Lucy Dacus und Julien Baker, die beide ebenfalls großartige Künstler:innen sind und eigene Solo-Projekte bespielen. Darüberhinaus ist Phoebe Bridgers auch noch Teil des Better Oblivion Community Center gemeinsam mit Conor Oberst. Das gleichnamige Album erschien 2019 und klingt wie eine Holzhütte im ländlichen Oregon, in der die einzigen Einrichtungsgegenstände Akustikgitarren und Fernweh sind (nicht falsch verstehen, das ist als riesengroßes Kompliment gemeint).
Felix Schönfuss
So, auf den habt ihr die ganze Zeit gewartet, oder? Kaum ein Musiker in der deutschen Punk-Szene steht so synonym für Bandhopping wie Felix Schönfuss. 2010 heuerte der Nebenerwerbsschreihals bei der Schleswig-Holsteinischen Hardcore-Kapelle Escapado an, wo die Stimmbänder schonmal großzügig vorgedehnt wurden für alles, was da noch so kommen sollte. Mit Escapado sollte das allerdings nicht allzu viel sein, denn der Albumtitel-gebende Montgomery wurde nach ebenjenem mundtot, und auch Escapado lösten sich 2011 auf.
Die nächste Station auf dem Weg von Felix Schönfuss war Frau Potz, mit der er 2012 das bis heute in vielen All-Time-Classics-Listen kursierende Album mit dem unfassbar grandiosen Titel “lehnt dankend ab” veröffentlichte. Der kreischende Gesangsstil und die grimmig-bissige Attitüde ließen Fans von Frau Potz auf großes hoffen. Aber dazu kam es leider nie. In einer nie aufgeklärten Tragödie wurde Frau Potz – Gott hab sie selig – in einem grausamen Gewaltverbrechen ermordet. Die Täter: Eine Boyband mit Tattoos. Ihr Alibi: Sie seien zu dieser Zeit angeblich mit einer ominösen Band namens Adam Angst dabei, neue Musik zu schreiben. Der tragische Fall wurde nie aufgeklärt, und die Unholde touren noch heute durch die Republik. Immerhin hat Schönfuss, der als Sänger der Rock-Rüpel-Kapelle fungiert, nach Album Nummer eins seinen Komplizen mittlerweile auch einen Platz auf dem Cover vergönnt.
David Schreier
Einer der Verdächtigen in der Causa Frau Potz ist ein gewisser David Schreier (ja, der heißt wirklich so), der seit Gründung der Band Adam Angst dort Abend für Abend die Sechssaiter malträtiert. Seinem Nachnamen entsprechend röhrt er allerdings auch noch in der redaktionsübergreifend heiß und innig geliebten Band Fjørt, gemeinsam mit Chris Hell (kannste dir nich ausdenken, diese Namen) an Gitarre und Stimmverstärker und Frank Schophaus an den Marschtrommeln. So weit, so bekannt. Allerdings hatte auch Schreier mit Nora Yeux in seiner Vergangenheit eine Band, die leider nie über ihre selbstbetitelte Debüt-EP hinauskam. Die sechs Songs auf “Nora Yeux” vermitteln das Gefühl eines verzweifelten Roadtrips, an dessen Ende die Protagonist:innen mit hochgestelltem Kragen dem rauen Küstenwind entgegensehen. Trotz der eher melodischen Instrumentals sind hier schon Anleihen der kryptischen Poesie zu vernehmen, die Fjørt später so großartig machen würde.
Max Reckleben
Kennt ihr noch BRETT? Nein? Dann habt ihr 2018 eins der besten deutschen Punk-Alben des Jahren verpasst! WutKitsch war genau das, was es vorgab zu sein: Ungezügelte Rage über, wenn man ehrlich ist oft relativ belanglose, Lifestyle-Themen. Die Gleichförmigkeit der Gesellschaft, die Verkonsumierung der Subkultur, die Lächerlichkeit der Hustle-Culture. All diese Gefühle wurden vertont in Sprache und Stimme von Max Reckleben, der ihnen mit seinem unverkennbar zwischen Heiserkeit und Stimmbruch hin und her taumelnden Timbre einen wunderbar theatralischen Twist verleiht.
Auf die maximale Abkehr und Antihaltung folgte in der Pandemie die offenherzige Umarmung. Castillo vereinen loungige Swagger-Gitarren mit tropischem Flair und einer Introspektive, die ihren Kitsch nicht mehr mit Wut überspielen muss. Mit “Nicht gern allein” folgte 2022 das erste Album und im vergangenen Jahr die EP “Milliardäre & Verlierer”.
Auch Recklebens drittes musikalisches Projekt DiNA ist ein Kind des Lockdowns. Hier wurden Theatralik und Pathos wieder voll aufgedreht und herausgekommen ist ein düsteres, treibendes und durch und durch unbehagliches Album. Der Punk-Spirit wohnt der Band, nicht zuletzt durch Recklebens ausdrucksstarke und sich immer wieder überschlagende Stimme, noch immer inne.
So, am Ende der Liste angekommen stellt sich die unausweichliche Frage: Wen habe ich vergessen? Sagt ihr es mir!
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.