Warum die Zeiten für musikalische Newcomer selten besser waren
04.06.2020 | Jakob Uhlig
Mit Musik eine Karriere zu starten war noch nie eine vernünftige, aber schon immer eine gute Idee. Sich mit Kunst durchzuschlagen gelingt nach wie vor den wenigsten und wer sich hin und wieder durch die einschlägigen Berichte der entsprechenden Presse gräbt, der bekommt nicht gerade das Gefühl, dass irgendwo Besserung in Sicht wäre. Ließ sich früher noch mit physischen Tonträgern eine ganze Stange Geld verdienen, haben Streaming-Services diesen Einkommenszweig mittlerweile auf ein Minimum gedrückt. Studiomusik ist aus finanzieller Sicht im Vergleich zu früher fast wertlos geworden. Wer hier ernsthaft maximieren will, setzt eher auf schnelllebige Singles als auf komplexe Alben. Dauerhaftigkeit und Omnipräsenz gibt es wohl auch deswegen bei den Pop-Stars von heute in ganz anderen Dimensionen als noch vor einigen Jahrzehnten. Eine Billie Eilish ist zweifelsohne im letzten Jahr zu einem seltenen Massenphänomen von beeindruckender Größe geworden, trotzdem ist ihr Erfolg kaum vergleichbar mit etwa der „Beatle-Mania“ in den 60ern. Ob es eine derartig vereinnahmende Pop-Ära wie die Zeit der vier Pilzköpfe aus Großbritannien überhaupt noch einmal geben wird, ist mehr als fraglich.
Wer diese Veränderungen aber zum Anlass nimmt, die Musikindustrie als Kulturbereich auf dem absteigenden Ast zu sehen, der betrachtet die Sachlage nicht differenziert genug. Denn all diese Entwicklungen sind vor allem Teil einer zunehmenden Verbreiterung unseres musikalischen Horizonts – ein Phänomen, das erstmal widersprüchlich erscheinen mag. Sprechen wir nicht ständig davon, dass Popmusik heutzutage immer gleichförmiger klingt? Ob diese Annahme tatsächlich einer faktenbasierten Realität entspricht oder nicht eher aus nostalgischer Verklärung der Vergangenheit geschieht, sei mal dahingestellt. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass durch die Entwicklung von Digitalisierung und Globalisierung viel mehr Künstler direkt den Weg in unsere Ohren finden. Die Zeugnisse dafür sind relativ offensichtlich: Musik konsumieren und entdecken heute viele vorrangig in Playlisten, die nicht aus einem, sondern aus mehreren Künstlern bestehen. So sehr manch ein Musik-Romantiker das Dahinscheiden des Albumformats bedauern mag, sein Ersatz führt dazu, dass wir uns viel schneller und öfter mit verschiedenen Künstlern auseinandersetzen.
Die Konsequenz daraus: Die jüngeren Entwicklungen des Musikmarkts schaden vor allem den Großen. Kleine Bands und Künstler*Innen wiederum müssen hier eher eine Chance sehen. Der Kampf um Zuhörer tobt nach wie vor, aber das potentielle Publikum hat gleichzeitig Raum für deutlich mehr Interpreten in seiner Bibliothek. Soziale Medien und digitale Vertriebswege erlauben das viel unmittelbarere und im Grundsatz kostenlose Erreichen eines Publikums. Die Verbreiterung der Hörgewohnheiten führt vielleicht dazu, dass Billie Eilish weniger verdient als eine Madonna zu ihren Hochzeiten, die kleine lokale Punkband hat hingegen bessere Chancen, mit ihrer Sparte ein zumindest etwas größeres Publikum zu erreichen.
Natürlich hat diese Tendenz nicht nur eine Dimension, denn gleichzeitig klagen viele Veranstalter*Innen von Konzerten, dass die Organisation kleiner Konzerte heute viel schwieriger sei als noch vor ein paar Jahren. Womit das zusammenhängt, kann man nur mutmaßen. Vielleicht liegt es an dem generell enorm angestiegenen Preisniveau von Live-Musik, das Menschen länger überlegen lässt, ob sich ein Konzert wirklich lohnt. Wer mittlerweile dreistellige Beträge für das Riesenkonzert seines Lieblingskünstlers ausgibt, sieht das wohl eher als besondere und einmalige Investition und lässt den kleinen Club in der Folge eher aus.
Anderseits ist es aber vielleicht auch genau die neue Rolle, die Streaming im Entdecken neuer Bands einnimmt. Denn wer mittlerweile immer wieder speziell personalisierten Klangstoff via Algorithmus serviert bekommt, der muss seinen Hintern gar nicht mehr in den schwitzigen Jugendclub von nebenan bewegen. Für Live-Kultur ist das mit Sicherheit ein Manko – aber als Zeichen für die Chancenlosigkeit junger Bands muss das nicht gewertet werden. Bands müssen heute lange nicht mehr das Hindernis "Label" überwinden, um überhaupt die realistische Chance zu bekommen, ein ausgereiftes musikalisches Projekt an die Leute zu bringen. Heute kann jeder selbst sein Plattenlabel sein und heute ist die Technologie sogar so weit fortgeschritten, dass jeder mit etwas Knowhow und Investment zuhause eine ziemlich professionelle Produktion fertigbringen kann – auch ganz ohne Studio.
Wer also heute mit seiner Band anfangen will, der sollte sich nicht von einer Hiobsbotschaft nach der anderen aus dem Musikmarkt abschrecken lassen. Um als kleine Band Gehör zu finden, waren die Zeiten wahrscheinlich noch nie besser. Und das ist die wahrscheinlich positivste Entwicklung, die die Musikindustrie in den letzten Jahren hervorgebracht hat – völlig unabhängig von all den berechtigten Klagen, die abseits davon immer wieder fallen mögen.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.