Was Covid-19 uns über Kunst erzählt – und umgekehrt
30.06.2020 | Jakob Uhlig
Als ich Mitte März gerade noch rechtzeitig aus dem Urlaub an der Ostsee zurückkam, hatte sich die Welt schon fast vollständig verändert. Bereits in den letzten Tagen in unserem kleinen Ferien-Appartement hatten meine Freundin und ich ständig das Programm von NDR Info laufen, um uns über ein Ereignis zu informieren, das keiner von uns so jemals erlebt hat. Innerhalb weniger Tage waren plötzlich alle Pläne der nächsten Monate dahin, Konzerte wurden reihenweise abgesagt, die lang erwartete Studierendenausstellung an der Hochschule meiner Freundin fiel plötzlich ins Wasser und wir begannen allmählich zu begreifen, wie wichtig die Selbstisolation jetzt sein würde. Mit dem Ende unseres Urlaubs fuhren wir wieder jeweils in unsere Heimatorte und waren nun endgültig mit der Wirklichkeit konfrontiert. Ab jetzt also nur noch zum Einkaufen und Spazieren nach draußen, keine Ablenkung, keine physischen sozialen Kontakte mehr und irgendwie lernen, mit der eigenen kleinen Wohnung und sich selbst klarzukommen. Eine logische Zerstreuung in diesen Tagen: Musik. Eine der ersten neuen Platten, die ich nach Beginn der Corona-Krise in Deutschland höre, ist die Debüt-EP des Berliner Retro-Poppers Betterov. Im Opener „Viertel vor irgendwas“ heißt es da plötzlich: „Das Einzige was ich weiß – ich ertrag mich nicht alleine.“ Ist das dieses ominöse Schicksal, das da zu mir spricht?
Dass es nicht nur mir so geht, überrascht mich nicht wirklich. Das Kunst plötzlich ganz anders auf einen wirkt, wenn man gerade starke Emotionen durchlebt, habe ich schon bei meinem ersten Liebeskummer spüren dürfen. Dass gerade zeitgleich enorm viele Menschen die selben Gedanken wie mich beschäftigen, merke ich dann auch etwa am perfiden Humor des Youtube-Algorithmus'. Plötzlich wird mir da auf der Startseite wieder das längst abgenudelte „Allein allein“ von Polarkreis 18 angespült – inklusive zahlreicher neuer Kommentare aus den letzten Tagen, deren Urheber die Videoplattform scheinbar ähnlich sensibel für Verlassenheit eingestuft hat wie mich. Wie es scheint, sind wir zumindest in unseren Sorgen so vereint wie lange nicht.
Wie groß dieses Phänomen aber wirklich ist, wird mir erst bewusst, als ich nach dem Ausbruch der Corona-Welle in Deutschland meiner Arbeit nachgehe. Wie üblich telefoniere ich regelmäßig mit verschiedenen Künstlern und rede mit ihnen über ihre neuen Platten, doch etwas ist anders seit Corona. Plötzlich geht es in den Gesprächen immer irgendwann darum, wie sehr die neuen Songs auf einmal in die aktuelle Situation zu passen scheinen, obwohl sie natürlich gar nicht im Geiste dieser Tage entstanden sind. Manchmal sind diese gedanklichen Konstruktionen wirklich mehr als nachvollziehbar. Um wie die Londoner Prog-Metaller Haken im Juni 2020 ein Album namens „Virus“ zu veröffentlichen, gehört schon sehr viel Pech dazu. Manche Verbindungen geschehen doch aber eher über mehrere Zwischenebenen: Janosch Rathmer von Long Distance Calling denkt bei der dysoptischen Technologie-Welt auf dem neuen Album seiner Band etwa an die vielen Überwachungsmaßnahmen, mit der es die reichen Erste-Welt-Länder fertig bringen, die Pandemie-Kurve abzuflachen. Bei Boston Manor wiederum ist es wieder das Gefühl von Alleinsein und Abgeschiedenheit – ein Thema, das uns als Gesellschaft augenscheinlich schon seit geraumer Zeit beschäftigt, aber noch nie so präsent war wie jetzt.
Mich beeindruckt, dass Menschen scheinbar nicht nur Songs von anderen auf ihr eigenes Leben projizieren, sondern sogar eigene Kunstwerke umdeuten, von denen ihnen klar sein muss, wie sie ursprünglich mal gemeint waren. Einen besseren Beweis für die These, dass Musik manchmal ihre Erschaffer übersteigt, kann es eigentlich kaum geben. Dass das gerade in Ausnahmesituationen wie der Corona-Krise umso stärker hervortritt, zeigt weiterhin, wie sehr wir in Songs nach einer Lösung, einem Anhaltspunkt oder einfach nur Verständnis suchen, wenn es uns gerade am schlechtesten geht.
Dass Songs dabei offenkundig vor allem die negativen Gefühle widerspiegeln, die wir gerade erleben, ist ein Eindruck, den ich ebenfalls aus meinen Gesprächen mit Künstlern gewonnen habe. Um eine Art inneren Widerstand gegen die aktuelle Situation ging es eigentlich nie, stattdessen ist der Tenor stets die Suche nach einem Narrativ, der Ähnliches durchmacht wie man selbst. Dieser Ansatz ist tatsächlich passend zu musiktherapeutischen Vorgängen: Einem traurigen Patienten begegnet man nicht unbedingt immer dann am besten, wenn man ihm fröhliche Musik vorspielt. Vielmehr suchen wir in Musik nach einem Auffangnetz, nach jemandem, der gerade das gleiche fühlt wie wir. Fast schon unglaublich, dass dieses Gefühl so stark sein kann, dass sogar unser altes Ich dieser Jemand manchmal ist. Corona lässt unser Leben so unsicher wie lange nicht erscheinen, wir tappen im Dunkel auf der Suche nach Antworten und wissen oft nicht, wohin mit uns. Eins beweist uns die Krise aber umso mehr: Musik ist ein höchst subjektiver Anker, der für uns so oft genau das sein kann, was wir gerade brauchen.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.