Das wahrscheinlich wichtigste Festival des Landes fand in diesem Jahr nicht auf einer stillgelegten Rennstrecke oder in einem von Metallern überlaufenen Dörfchen statt, sondern in der beschaulichen Münsteraner Location Sputnikhalle. Um auf die fehlende Repräsentation von FINTA-Artists auf den großen Festivalbühnen Deutschlands hinzuweisen, starteten Kochkraft durch KMA und das Ladies und Ladys Label die Aktion Cock Am Ring und veröffentlichten einen Sampler, auf dem FINTA-Künstler:innen Songs von Rock-Am-Ring-Dauergästen wie Billy Talent, den Toten Hosen oder den Beatsteaks coverten. Aber immer nur mit dem Finger zeigen ist ja auch irgendwie blöd, dachten sich die Beteiligten wohl, und riefen das Cock Am Ring Festival ins Leben. Auf den beiden Bühnen der Sputnikhalle traten an zwei Tagen insgesamt zwölf Bands und Künstler:innen auf, oben drauf gab’s Workshops und Stände verschiedener queer-feministischer Initiativen.
Als ich am Samstag Nachmittag am Festivalgelände ankomme, herrscht reges, aber gemütliches Treiben. Die erste Künstlerin, Kat Kit, wird erst in circa einer halben Stunde spielen, und so nutze ich die Zeit um das Gelände zu erkunden, besorge mir ein Getränk und ein von Kochkraft durch KMA – den Headlinern des Abends – eigenhändig im Backstage zusammengefrickeltes Armband. Langsam aber sicher trudeln mehr Gäste ein und es wird schnell ersichtlich, dass das Diversitätsargument eben doch viele Leute von der Couch und vor die Bühnen bekommt. Es ist eben wichtig, Geschlechtervielfalt auch vielfältig auf solchen Veranstaltungen zu zeigen. Das Publikum ist dementsprechend durchmischt und sehr angenehm. Das mag zum einen an der überschaubaren Kapazität des Festivals liegen, zum anderen aber auch daran, dass die Gäste hier nicht schon den ganzen Vormittag biertrichternd und schlagerhörend auf einer Zeltwiese verbracht haben. So sollte die Atmosphäre über das gesamte Wochenende hinweg stets sehr angenehm bleiben.
Nachdem Kat Kit ihr Set auf der kleinen Bühne beendet hat, erklimmt das Trio Wenn einer lügt dann wir die Mainstage. Die Band ergänzt das klassische Garagen-Ensemble aus Bass, Gitarre und Schlagzeug um – Achtung, Triggerwarnung – Autotune. Und das funktioniert hervorragend! Der etwas überdrehte Effekt komplementiert die vor Witz und Ironie triefenden Lyrics perfekt und Frontfrau Johanna ist mit ihren etwas verpeilten Ansagen entweder ein Comedy-Genie oder sympathisch vercheckt. So oder so sind die Pausen zwischen den Songs, in denen die Band miteinander und dem Publikum interagiert, fast genauso unterhaltsam wie die energiegeladenen Performances selbst. Wenn einer lügt dann wir sind gerade live eine Wucht und heizen die Sputnikhalle ordentlich vor für alle nachfolgenden Acts.
Nach ungefähr einer Stunde und einer weiteren Runde Getränke steht das nächste Konzert auf der Tagesordnung. ELL sind ein Duo aus Drummer und Bassistin, die mit ihrem schroff-grummeligen Alt-Rock-Sound ein bisschen an Royal Blood erinnern, aber dazu noch eine Prise Riot Grrrl-Attitüde untermischen. In Sachen Live-Sound und schierer Brachialität stellen die beiden, obwohl sie nur auf der kleinen Bühne im Café spielen, alle anderen Acts des Festivals in den Schatten. ELL streuen in das Set aus eigenen Songs auch einige Cover ein. Neben der eingedeutschten Variante des Beatsteaks-Hits “Let Me In” performen sie auch “Unfall” von Mine in einer ganz eigenen Variante und drehen dabei die komplette Stimmung des Songs auf den Kopf. Wütender, bissiger und rotziger, brauche ich erstmal bis zum ersten Refrain, um das Cover überhaupt als solches zu erkennen.
Fürs Abendessen ziehen wir kurzerhand in die nahegelegene Innenstadt, um pünktlich zum Auftritt der Hamburger Singer-Songwriterin MELLI wieder an Ort und Stelle zu sein. Die glänzt mit glasklarer Stimme und gefühlvollen Dark-Pop-Songs, schlägt aber insgesamt ruhigere Töne an als die anderen Acts des Abends. Den Abschluss machen dann keine geringeren als Kochkraft durch KMA höchstpersönlich. Wer noch nie in den Genuss einer Liveshow dieser Band gekommen ist, hat das dringendst auf ihrer kommenden Tour nachzuholen. Die Energie, die das Quartett auf, vor, (hier beliebige Präposition einfügen) und neben die Bühne bringt, wird nur noch übertroffen von den absurden Bangerqualitäten ihrer Songs. Die Kochkraft spielt an diesem Abend ein Best of ihrer größten Hits, von “Endlich Läuse” bis “Zombicolor” ist alles dabei. Nur die Singles ihres neuen Albums vermisst man schmerzlich, allerdings kann auch das der tanzwütigen Crowd den Abend nicht vermiesen. Ein angemessen ausgelassener Höhepunkt für den ersten Tag Cock Am Ring.
Nachdem ich die Nacht notgedrungen bei einer Freundin in Münster auf der Isomatte verbringen musste, da der letzte Zug nach Osnabrück ausgefallen war, stehe ich am Sonntag Nachmittag kurz vor dem ersten Konzert wieder auf der Matte. Lisa Spielmann steht bereits auf der Bühne der Halle, als ich diese betrete. Die sympathische Pop-Sängerin erfreut sich trotz im Vergleich zum Vortag deutlich geschmälertem Publikum an der Aufmerksamkeit der Anwesenden und liefert zusammen mit ihrer Band eine gute Show ab, auch wenn ihre Musik mir persönlich nicht zu hundert Prozent zusagt. Das ist beim nächsten Act schon etwas anders, denn Becky Sikasa schafft es mit ihrer gefühlvollen Interpretation von Soul und R’n’B, nicht nur meine, sondern aller Anwesenden ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Subtile Vocoder- und Halleffekte auf der Stimme geben den Songs eine gewisse klangliche Tiefe, die sich wunderbar in die Kombination aus Drums und Klavier einfügt.
Nach einer kurzen Verschnaufpause und einer Mate, um mir die Müdigkeit aus den Knochen zu spülen, mache ich mich auf den Weg zurück zur Hauptbühne. Hier müssen Kapa Tult nicht nur ohne ihre Organistin, die krankheitsbedingt ausfällt auftreten, der Gitarristin reißt auch noch die hohe E-Saite, weswegen das Set knapp 3 Songs kürzer ausfallen muss als ursprünglich geplant. Die Wartezeit, bis die neue Gitarre gebracht wird, überbrücken die drei anwesenden Bandmitglieder mit Anekdoten aus dem Bandalltag und plötzlich trauert man der Unterbrechung gar nicht mehr so sehr nach, so unterhaltsam ist das. Den Vergleich zu den Ärzten beschwört die Band nicht nur durch die stehende Schlagzeugerin und die wortwitzigen Texte herauf, sondern auch durch ein Cover des, ich möchte fast sagen Millenium-Bangers “Yoko Ono”, das die Band geradezu nahtlos in einen ihrer eigenen Songs einfließen lässt. Vergleiche beiseite, Kapa Tult spielen sich mit ihrer unbeschwerten und unverstellten Show direkt in mein Herz und sind für mich die stärkste Band des Abends.
Das heißt aber nicht, dass die Stimmung nach dem Konzert nur noch bergab geht, denn Singer-Songwriterin Mina Richmann und ihre Band bringen die Tanzbeine des CaR-Publikums nochmal richtig in schwung, und das obwohl sie selbst wegen – wie sie es nennt – “Gravitationsallergie”, mit einem geschienten Fuß auf einem Barhocker sitzt. Der Funke springt nach einigen Songs auch auf mich über, auch wenn an der Gitarrenfront für mich persönlich vielleicht ein bisschen zu viel Solo-Gekniedel ausgepackt wird, aber das ist an dieser Stelle wirklich Meckern auf sehr hohem Niveau. Performancemäßig sind nämlich sowohl Mina Richmann als auch ihre Band extrem tight unterwegs. Headliner des Abends ist Lisa Who, die knapp eine halbe Stunde später als ursprünglich angekündigt die Bühne betritt und einem nun leider wirklich recht dezimierten Publikum ihre Songs präsentiert. Auch wenn der Zuschauendenrückgang einen kleinen Dämpfer in Sachen Stimmung mit sich bringt, fühlt sich die Headlinershow plötzlich an wie ein Wohnzimmerkonzert. Und auch wenn ich Lisa Who, und vor allem dem Cock Am Ring Festival die größte und lauteste Menge gewünscht hätte, die in der Sputnikhalle Platz findet, so ist es auch ein schöner Abschluss für ein sehr schönes und wichtiges Festival. Hoffentlich war es nicht das letzte Mal!