Ich bin ehrlich, der Tag nahm keinen guten Anfang für mich. Nicht nur hatten sämtliche Läden, die ich auf meiner vormittäglichen Einkaufstour ansteuerte, entweder mangels Personal oder wegen Umbau geschlossen, ich habe beim Versuch, meinen Fahrradreifen zu flicken nicht nur das Loch im alten Schlauch nicht gefunden, sondern dann auch noch den neuen Schlauch beim Einbau direkt kaputt gemacht. Entsprechend mies gelaunt machte ich mich also gegen Abend auf den Weg nach Münster, um diesem Mittwoch noch ein versöhnliches Ende in Form eines The-Hirsch-Effekt-Konzerts zu verpassen. Die 15 Minuten Verspätung, die die Regionalbahn auf der halbstündigen Fahrt von Osnabrück ansammelte, war dann auch egal, und so stand ich etwas zu spät und nassgeregnet vor der Sputnikhalle und wartete auf meine Begleitung, deren Zug ebenfalls Verspätung hatte. Gesellschaft unter dem besprayten Betonabdach vor der Location leistete mir dabei eine der ortsansässigen Ratten. Und das für knappe 15 Minuten und in so unmittelbarer Nähe und stiller Akzeptanz, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn mir das Tier irgendwann wortlos eine Kippe angeboten hätte.
Als besagte Begleitung eintrifft, verabschieden wir uns per Fistbump von der Ratte und begeben uns in die Venue, wo wir überraschenderweise nicht nach rechts in die Sputnikhalle, sondern nach links ins Café Sputnik geleitet werden, wo die Supportband A kew’s tag ihr Set bereits begonnen hatten. Das Café ist zwar etwas kleiner als die Sputnikhalle, dafür architektonisch aber sehr viel angenehmer als die alternative Location es gewesen wäre. Darüber hinaus hat man hier erst vor kurzem eine neue Lichtanlage installiert, die die drei Musiker von A kew’s tag atmosphärisch in Szene setzt. Es handelt sich bei der Band um eine zugegebenermaßen etwas weirde, aber ziemlich coole Symbiose aus technischen Metal-Geschrammel, inklusive Drum-Gewitter und schrägen Taktarten, und dem Klang einer Akustikgitarre. Dieser ungewöhnlichen Kombination entnehmen A kew’s tag auch ihren Bandnamen. Und bereits jetzt steht ein beachtlicher Teil der Anwesenden interessiert und kopf- und fußwippend vor der Bühne, um sich den Auftritt des Trios anzuschauen.
Nachdem sich die Supportband unter Jubel verabschiedet, beginnt in Windeseile eine der flottesten Umbaupausen, die ich auf einem Konzert je erlebt habe. Kaum eine halbe Stunde dauert es, bis die Lichter abgedunkelt werden und The Hirsch Effekt die Bühne betreten. Als “Einlaufmusik” ertönt dabei der Song “Your Love” der 80er-Rockband The Outfield. Amüsiert schmunzelnd betrachte ich, wie Bandmitglieder unter Hüftschwüngen zum Chorus ihre Instrumente anlegen und. Bumm. Lichter aus. Lichter an. Lichter flackern. Alles ist laut, irgendjemand schreit. Ich brauche beinahe bis zum ersten Refrain des “echten” Openers “Agnosie”, bis ich kapiere, was hier gerade passiert ist. Völlig ohne Übergang beginnen The Hirsch Effekt mitten im Refrain von “Your Love” ihr Set. Was für ein Auftakt!
Die neue Lichtanlage des Café Sputnik macht sich an diesem Abend tausendfach bezahlt. Nebel und Strahler hüllen die Band zeitweise fast komplett in schimmernden Dunst, nur um im nächsten Moment wieder stroboskopartig die wilden Melodien der Band zu spiegeln. Die ersten fünf Songs des Abends sind aus altgedienten Hits der Band-Diskografie zusammengestellt und bringen das augenscheinlich sehr angetane Publikum Reihenweise zum Headbangen. Viel Bewegung entsteht allerdings nicht, was wohl auch der völligen Überforderung damit zu schulden ist, wie man sich zu dieser Musik mit ihren x Taktwechseln pro Minute überhaupt koordiniert anspringen sollte. Meine Begleitung für diesen Abend ist selbst Schlagzeuger und leidet an der Berufskrankheit vieler Musiker, Konzerte teilweise etwas zu überanalysieren. Das äußert sich dann in Bemerkungen wie “ich geh mal kurz den Sweetspot auschecken,” oder der ironischen Frage “Wo ist die 1?,” die kurz darauf mit “ah, da ist sie” beantwortet wird. Mich erheitert und beeindruckt diese Auffassungsgabe gleichermaßen, denn mir wird spätestens seit dem zweiten Song komplett schwindelig, wenn ich versuche, da irgendwo einen Takt rauszuhören.
Nach einem Querschnitt bisheriger Alben beginnen The Hirsch Effekt mit dem titelgebenden Song den “Urian”-Block der Show, und auch die neuen Songs zünden bei den anwesenden Fans sofort. Mein Herz schlägt kurz sehr viel schneller, als Gitarrist und Sänger Nils Wittrock nach dem Umbau auf ein akustisches Setup die ersten Takte von “Stegodon” anspielt. Diese Vorfreude hält allerdings nur solange, bis er schmunzelnd wieder absetzt und erklärt, er wüsste überhaupt nicht, wie er diesen Song live arrangieren sollte, um ihn umsetzen zu können. Stattdessen geben The Hirsch Effekt in der Besetzung Nils Wittrock an Akustikgitarre und Gesang, Moritz Schmidt am Bass und Ilja John Lappin am Cello das Albumintro “Agora” zum Besten.
Die letzten drei Songs der Show plus Zugabe entlassen dann meinen Kiefer vollends in den freien Fall. Eingeleitet mit “Lifnej” zündet das Hannoveraner Trio ein Ensemble meiner persönlichen Lieblingssongs der Band. Auf den eben angesprochenen Song folgen “Kollaps” und der immer wieder niederschmetternde “Mara” als krönender Fast-Abschluss, bevor die Show in der Zugabe “Cotard” ihr Ende findet. Meine Laune haben The Hirsch Effekt an diesem Abend um 180 Grad gedreht, und als wir in die kalte Abendluft treten hat auch der Regen endlich aufgehört. Unsere Bekanntschaft vom Einlass, die Ratte, unterhält sich vor der Venue mittlerweile rauchend mit einem Techniker und nickt uns zum Abscheid grüßend zu, als wir die Sputnikhalle verlassen und uns auf den Heimweg begeben…