Bei der ersten Vorband komme ich etwas verspätet, aber genau passend zu dem Aufruf "You're never gonna be normal" an. The Homeless Gospel Choir besteht aus einem einzigen Mann, der allerdings Stimmung macht wie ein ganzer Chor. Er fordert als Singer & Songwriter die Leute zum Mitsingen auf und liefert einen angenehmen Einstieg, bei dem noch die letzten Nachzügler hereintröpfeln. Abgelöst wird er von The Creepshow, die mit Kontrabass und einer weiblichen Wahnsinns-Stimme einen tollen Auftakt liefern.
Dann starten Anti-Flag auch schon mit dem Song "Christian Nationalist" von dem neuen Album. Auch wenn die Band den Drummer Pat Thetic (Patrick Bollinger) auf dieser Tour aufgrund von Familiennachwuchs zuhause lassen mussten, spielt die Band super als Team zusammen. Die Band hat auch nach über 25 Jahren Bandgeschichte nichts von ihrer Power, ihrem musikalischen Können oder ihrer Einstellung eingebüßt. Genauso wenig wie das Publikum die Lust am Pogen verloren hat. Ich war schon bei einigen Anti-Flag Konzerten, bisher jedoch nur auf Festivals und meist auch eher zufällig. Aber eine so gute Stimmung liefert kaum eine Band. Zwischen mehreren Circle Pits, vielen Crowd-Surfern und lautstarkem Gesang ist immer Zeit, Menschen aufzuhelfen und bei den ruhigeren Songs durchzuatmen. Denn wie schon in der Rezension zu dem neuen Album bemerkt, wird gerade bei den neuen Liedern mit den etwas poppigeren Refrains eher weniger ausgerastet. Ist halt nicht für jeden im Publikum was. Tut dem Konzert oder der Band aber nichts, da die Lieder trotzdem musikalisch ansprechend sind und eine kurze Verschnaufpause bei all dem Herumgespringe auch mal nicht schadet. Ein guter Mix aus alten Hits und neuen Songs bietet für jeden etwas zum Mitsingen und Abgehen. Die politische Aussage kommt natürlich nicht zu kurz, auch wenn sich die Band zum Glück nicht zu lange mit Ansagen aufhält. Typisch für Anti Flag spielt ein Teil der Band gegen Ende auf einem kleinen Podest vor der Bühne. Die Nähe zum Publikum zeigt noch einmal, dass die Band nicht abgehoben ist, trotz ihres Erfolges. Ich erinnere mich in diesem Moment noch an mein allererstes Anti-Flag Konzert, wo ich mit einem Freund seinen Geldbeutel vorne an der Bühne gesucht habe, und der Sänger Justin Sane sich kurz mit uns unterhielt und uns Autogramme gab - obwohl wir dafür gar nicht dort waren. Oder bei meinem zweiten Konzert, wo der Gitarrist Chris Head mir sein Plektrum in die Hand drückte anstatt es ins Publikum zu werfen. Was für jedes Fangirl bestimmt der Moment des Lebens gewesen wäre, hat mir die Band nur noch einmal sympathischer gemacht. Aber genug von früheren Konzerten und zurück zu diesem Abend. Noch ein paar letzte Lieder werden gespielt, wie zum Beispiel der Klassiker "Die For Your Government", auf den alle gewartet zu haben scheinen.
Leider endet das Konzert etwas abrupt, denn die Band teasert noch einen letzten Song an, der dann aber gar nicht gespielt wird, sondern zur Überraschung der meisten in "I Will Always Love You" von Whitney Houston übergeht. Nach einiger Verwirrung und der Hoffnung, dass die Band noch einmal auf die Bühne kommt, begreifen auch die letzten Fans, dass die Band vermutlich eh schon überzogen hat und nun das Ende erreicht ist. Noch voller Adrenalin unterhält man sich noch ein wenig über das Konzert, lernt neue Leute kennen und macht sich bald auf den Heimweg. Es ist immerhin Mittwoch Abend.
Alles in allem haben Anti-Flag da weitergemacht, wo sie mit dem neuen Album angesetzt haben: Nichts überragend Neues bei der Show, aber genau das, was man sich von einem guten Punk-Konzert erwartet - Pogo, Stimmung, nette Leute und Protest gegen das, was schief läuft in der Welt. Ich hatte Spaß und freu mich schon auf das nächste Konzert. Anti-Flag haben meinem Konzert-Jahr 2020 jedenfalls eine tolle Vision gegeben.