Das Gleis 22 in Münster ist nicht nur eine der traditionsreichsten, sondern auch eine der am komfortabelsten zu erreichenden Venues der Stadt. Schon von weitem bei der Anfahrt durch den vernieselten Donnerstagabend erkennt man die zahlreichen Fahrräder, die vom Publikum offenbar als exklusives Transportmittel genutzt wurden, vor dem Eingang stehen. Hier einen Parkplatz für den eigenen Drahtesel zu finden gestaltet sich ähnlich schwierig wie einen guten Platz im Innenraum des Gleis 22 zu finden. Dieses habe ich nämlich selten so prall gefüllt vorgefunden wie an diesem Abend. Nicht nur voll war es auf den ersten Blick, sondern auch sehr laut. Sowohl an der Theke als auch mitten im Publikum bestimmten lautstarke Unterhaltungen und klimpernde Bierflaschen die Akustik. So hoch war der Geräuschpegel, dass ich erst auf dem Rückweg von der Garderobe zur Bühne bemerkte, dass Shitney Beers, der Support-Act für diesen Abend, bereits ihr Set angefangen hatte.
Nachdem diese schon während ihres Auftritts mehrmals um Ruhe bitten musste, hielt sich meine Sympathie für einen Großteil der Anwesenden bereits sehr in Grenzen. An dieser Stelle ein kleiner Appell: ntweder ihr haltet während der Songs die Klappe, oder ihr geht zum Schnacken nach draußen. Alles andere ist einfach respektlos. Ausgesprochen sympathisch war mir dagegen die besagte Künstlerin Shitney Beers, auch wenn dieser Abend meinen ersten Kontakt mit ihrer Musik darstellte. Leider fiel ihr Set relativ kurz aus, ob das am sichtlich desinteressierten Publikum lag, sei an dieser Stelle mal dahingestellt. Nach einer 20-minütigen Pause, weiterhin gefüllt von Bierflaschenklimpern und angeregten Diskussionen – ich war mir mittlerweile sicher, dass 90% des Publikums aus der gesammelten Spex-Leserschaft (bewusst nicht gegendert) bestand, so viele Hornbrille-Schirmmütze-Dreitagebart-Uniformen tummelten sich im Gleis 22 – enterten schließlich die Nerven die Bühne, standesgemäß zu Beethovens “Freude schöner Götterfunken”-Chor aus der Neunten Symphonie. Und siehe da, verflogen waren die Gespräche.
Ersetzt wurden sie aber nicht durch enthusiastischen Jubel und hörbare Freude, sondern eine Attitüde, die Max Rieger mit seiner ersten Ansage besser auf den Punkt brachte, als ich das jemals könnte: “Ich sehe alte Männergesichter. Keine Regung, alles schon gesehen. ‘86 Nick Cave in Osnabrück, was wollt ihr jetzt hier?” Offenbar fühlte man sich ertappt, brandete daraufhin doch spontaner Jubel auf und über den Rest des Abends wurde die Stimmung immer ausgelassener. Leider gehörten dazu auch immer wieder pseudo-humorige Zwischenrufe, über die einzig und allein Mitglieder derselben Demografie wie die der Rufenden lachen konnten. Aber genug von nervigen Zuschauern und hin zu den Protagonisten des Abends. Es war tatsächlich meine erste Live-Begegnung mit den Nerven, und ihrem vorauseilenden Ruf als beste Liveband der Nation entsprechend waren meine Erwartungen hoch. Zu sagen, ich wurde nicht enttäuscht, wäre eine Untertreibung. In den knapp anderthalb Stunden feuerte das Trio eine durch und durch makellose Show ab, komplett mit wilden Songübergängen, charismatischen Performances aller Bandmitglieder und einer Spielfreude, die ich so selten gesehen habe.
Nachdem die ersten drei Songs exklusiv aus Beiträgen des aktuellen Albums bestanden, wandte die Band sich im Laufe des Abends immer weiter ihrem Backkatalog zu und ließ dabei in Sachen Setlist wenig Wünsche offen. Einzig “Frei”, einen meiner absoluten Favoriten vom letzten Album “Fake”, habe ich schmerzlich vermisst. Zwischen den Songs gaben sich die Nerven, um abermals Riegers Worte zu benutzen, “volksnah”, bauten sogar eine fünfminütige Fragerunde in das Konzert ein, angesichts des sowieso schon sehr zur Ruhestörung neigenden Publikums ein gewagtes Unterfangen. Aber die Band wusste alle schnippischen Kommentare schlagfertig in ihre Schranken zu weisen, was für den Rest der Anwesenden wiederum sehr unterhaltsam war.
Am Ende des Abends bleibt ein ungewöhnlich wenig verschwitzter Redakteur, zwei wunderbare erste Eindrücke und die Erkenntnis, dass ein nerviges Publikum einem nicht immer den Konzertabend versauen muss. Manche Künstler:innen sind einfach so gut, dass es (bis zu einem gewissen Punkt) egal ist, wer da sonst noch so rumsteht.