Das Ambiente der Hamburger Astrastube überzeugt generell eher mit Schnörkellosigkeit, gehört aber gerade deswegen zu den Orten, an denen regelmäßig die echtesten Konzertmomente geschehen. Der winzige Club unter der Sternbrücke ist heute angenehm kuschelig gefüllt und ein nicht unerheblicher Teil des Publikums gehört nicht zur Hamburger Lokalgarde. Für diesen Abend im Zeichen von Deutschlands manifester Hardcore-Underground-Elite kommen die Menschen nicht nur aus der Hansestadt, sondern auch aus Berlin, Niedersachsen oder Bremen angereist. Kora Winters aktuelles Über-Album „Bitter“ hat seine Kreise offensichtlich über Bundesländergrenzen hinaus gezogen.
Die unglaubliche Vorfreude aller Anwesenden ist schon beim Betreten des Raums überdeutlich zu spüren. Die drei Bands des Abends nehmen diese Motivation mit aller Dankbarkeit auf, angefangen bei der Hamburger Metal-Formation Between Lines, die heute als Opener agiert und deren Frontmann Julian Ziegeler den Wahnsinn seiner martialischen Songs mit vollem Körpereinsatz verkörpert. Mit irrem Blick hetzt Ziegeler durch den Raum, klettert auf Verstärker und Tresen und zettelt regelmäßig initiativ Moshpits an. Manchmal erinnert dieses Schauspiel gar an die beeindruckende Präsenz eines Alexis Marshall. Standesgemäß donnert sich Ziegeler deswegen auch mehrfach sein Mikrofon demonstrativ gegen die Schläfe. Dieses einnehmende Bild ist bewusst verstörend, unterstreicht aber prägnant die irre Wut von Between Lines‘ Musik, die mit ungeheurer Lautstärke durch die Boxen kracht. Was für ein Einstand!
Wesentlich unglücklicher verläuft der Abend für Canine, die eine nicht zu verachtende Strecke aus Frankfurt zurücklegen müssen. Dabei geht alles schief, was nur schiefgehen kann und die Band trifft mit reichlich Verspätung am Ort des Geschehens ein. Einzige Lösung: Der Ablauf des Abends muss umgestellt werden und so geben Canine mit sehr begrenzter Set-Time den Abschluss des Abends. Mit den Worten „Fick die A7“ stürzt die Band deswegen ohne großen Soundcheck in ihr Set, das nun unter wirklich undankbaren Umständen stattfindet, aber trotzdem mit aller Gewalt überzeugt. Canine spielen ihre kraftvollen Songs unheimlich tight, Frontmann Benny Lampret versteht den Lauf durch die Reihen des Publikums ebenso gut wie vormals Ziegeler. Man merkt Canine in jedem kleinen Moment ihres Auftritts an, dass der Frust des zehrenden Tags aus ihnen raus muss. Diese kanalisierte Emotion kommt an.
Canines derartig verschobener Slot ist aber vor allem auch deswegen so undankbar, weil sie sich so nach dem unfassbaren Auftritt von Kora Winter behaupten müssen. Dieser erzeugt den unzweifelhaften Gipfel einer ohnehin enorm hoch angesetzten Gauß’schen Stimmungsglocke. Schon zum Start des Auftritts steht eine eingeschworene Traube sehnsüchtig um die 20 Zentimeter hohe Bühne, die nur darauf wartet, jeden Akkord und jede Textzeile in sich aufzusaugen. Schon beim Opener „Narben“ zeigt sich diese Leidenschaft aller Beteiligten in voller Größe. Wie die textsicheren Fans vor der Bühne alle Hemmung aufgeben, um die unheimlich nahbaren Zeilen von Kora-Winter-Frontmann Hakan Halaç in voller Inbrunst mitzuschreien, ist schon fast auf dem Level eines Touché-Amoré-Gigs. Sichtlich beeindruckt von dem sich ihm bietenden Spektakel reißt auch Halaç fast ungläubig die Augen auf und ruft begeistert: „Wow, das hat Potential!“. Die anschließende Komplettierung des „Welk“-Doppels durch „Stiche“ verfehlt seine Wirkung nicht und spätestens jetzt ist jedem klar, dass hier gerade etwas Besonderes passiert. Auch die neuen Songs von „Bitter“ sind bereits fest im Textgedächtnis der Anwesenden verankert. Besonders einnehmend äußert sich dieser Umstand, als Kora Winter den Titelsong ihrer aktuellen Platte anstimmen und sich das Publikum das namensgebende Ritornell gemeinsam mit ebensolcher Verzweiflung von der Seele ächzt, wie Halaç es tut. In der Astrastube ist eine aggressive Kollektivtherapie entbrannt. Als Kora Winter das Signal bekommen, entgegen ihrer Erwartung doch noch Zeit für den „Bitter“-Closer „Hagel“ zu haben, ist die ungezügelte Freude bei Band und Publikum so echt wie nur möglich und kaum in Worte zu fassen. Menschen, die sich heute teilweise zum ersten Mal getroffen haben, liegen sich in den Armen und fühlen jede der verzweifelten Zeilen mit, die von der Bühne schallt. Ein Abend, der den unglaublichen musikalischen Hilfeschrei von „Bitter“ in jeder Hinsicht maximiert und das unbändige Leid zu einer brutalen, aber schlussendlich seligen Katharsis umfunktioniert. Kora Winter sind die Speerspitze einer neuen Hardcore-Generation. Das haben heute alle gespürt.
Kommentare
- Die Fotos sind ja genial !!!!
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