Wer sich auch nur zwei Minuten im Hamburger Gruenspan umschaut, der bekommt einen bestechenden Eindruck davon, wie es Szene-Gigant Impericon fertigbringt, Massen zu mobilisieren. So gut wie jeder Besucher trägt heute mindestens einen Merchandise-Artikel, der aus dem Versandhaus des Leipziger Core-Imperiums stammt. Tunnel und Piercings sind hier keine rebellierenden Statussymbole, sondern gehören zum Dresscode. Entsprechend der enormen Szene-Stärke haben manche Bands dieser Tour mittlerweile schon den Sprung in ganz andere Hallen geschafft, vor einigen Jahren wagten hier Parkway Drive ihre ersten Gehversuche in Deutschland. Natürlich plustern sich die Veranstalter der Never Say Die!-Tour mit diesem Status gewaltig auf. Es bleibt nur zu fragen: Welche der Kapellen der diesjährigen Ausgabe soll es eigentlich sein, die in den kommenden Jahren zu Höherem auserkoren sein soll?
Denn egal, wie sehr viele der Zuschauer des heutigen Abends fest davon überzeugt sein mögen, die spannendsten Acts des aktuellen Musikdiskurses zu sehen bekommen: In Wahrheit erleben sie eine der kantenlosesten Veranstaltungen des Jahres. Die kurzen Set-Zeiten sind minutiös durchgeplant, die Bands geben alles, aber eben auch fast immer nur genau das, was von ihnen erwartet wird. Wenn Casey-Frontmann Tom Weaver im Rahmen seines Auftritts auf Hilfe für Suizid-Gefährdete aufmerksam macht, dann ist er tatsächlich der einzige Akteur des Abends, der auf der Bühne so etwas wie Persönlichkeit zeigt – und nicht nur damit unter Beweis stellt, dass der aktuelle Szene-Hype um diese Band zumindest nicht völlig überzogen ist. Alle anderen spulen brav ihr Set ab: Thousand Below, Currents und Polar sind stets darauf bedacht, möglichst massiv zu Werke zu gehen. Belohnt werden sie dafür mit proportional zu den eintreffenden Zuschauern größer werdenden Moshpits. Aber zu mehr als blindem Gewalze sind die Opener des Abends eben nicht in der Lage. Die größte Geste, die sie zeigen, ist das Grüßen der anderen teilnehmenden Bands – und diesen obligatorischen Programmpunkt wird am heutigen Abend tatsächlich jeder einzelne Act in sein Programm einarbeiten.
Und auch, wenn die musikalische Originalität der auftretenden Bands im Verlauf des Abends zumindest ein wenig steigt, leistet sich doch niemand mehr als das Obligatorische. Die späteren Acts des Abends zeigen im Wesentlichen zwei Trends, die in der Core-Szene gerade für ein wenig Eskapismus aus der erschreckend großen Welle an Schema-F-Bands sorgen. Zum einen wäre da der emotionale Post-Hardcore, wie ihn die bereits erwähnten Casey tatsächlich pur verkörpern und dabei so viel intensiver sind als jede x-beliebige Haudrauf-Band des heutigen Abends. Zum anderen setzen sich aber auch elektronische Akzente langsam durch, wie sie Alazka oder Northlane in ihre Songs einbauen. Beide Bands benutzen diese Elemente aber eben nur, um letztendlich doch wieder in die üblichen Formeln abzudriften.
Die einzigen, die heute aber wirklich mit klanglichen Ecken und Kanten punkten können, sind die verdienten Headliner Being As An Ocean, die gerade mit ihrer neuesten Platte „Waiting For Morning To Come“ musikalische Ambitionen unter Beweis gestellt hatten. Es ist daher etwas schade, dass alle klanglichen Elemente, die außerhalb der üblichen Bandbesetzung stattfinden, aus der Dose kommen, und dass Frontmann Joel Quartuccio anfangs mit Soundproblemen zu kämpfen hat. Dennoch überzeugt der Auftritt der Kalifornier, weil er aneckt und dem Publikum euphorische Liebe zu entlocken weiß – zumindest denjenigen, die ohnehin schon sehnsüchtig auf das Erscheinen von Being As An Ocean gewartet hatten. Mit dem Auftritt des Headliners zeigt sich nämlich erneut ein bezeichnendes Bild: Während die versammelte Menge direkt vor der Bühne sich als beeindruckend textsicher erweist und jede einzelne Zeile förmlich wie ein paralleles Echo wiederschallen lässt, sind die Zuschauer weiter hinten ob der stellenweise sanfteren Klänge mitunter irritiert. Nur: Wer Pop mit musikalischer Angepasstheit verwechselt, der hat heute nicht richtig zugehört.