Fast 10% aller Menschen leiden an Depressionen. Jeder zweite erkrankt im Laufe seines Lebens an einer psychischen Erkrankung. Jeder siebte Jugendliche ist mit seiner Lebenssituation unzufrieden. „Everybody Is Talking About Mental Health“ sangen schon Apologies, I Have None. Vielleicht müssen wir nicht darüber reden, vielleicht müssen wir schreien. Und vielleicht brauchen auch einfach nur jemanden, der das für uns tut. Gut, dass es Touché Amoré gibt.
Um die Bedeutung von Abenden wie diesen wirklich greifbar zu machen, empfiehlt es sich, dem weltweit hoch angesehenen Pianisten und Leiter der Musikabteilung am Boston Conservatory, Dr. Karl Paulnack, zuzuhören. Dieser hält den Freshmen an seiner Hochschule jedes Jahr eine Willkommensrede, die sie nicht nur dort begrüßen soll, sondern ihnen auch und vor allem die Funktion und unerlässliche Relevanz der Musikschaffenden für die Gesellschaft aufzeigen soll. Wie unersetzbar die Kunstform Musik für den seelischen Frieden jedes Einzelnen ist, macht er an folgendem Bild fest:
„Wenn wir eine Medizin-Hochschule wären und du hier als Medizinstudent bist und Appendektomien praktizierst, würdest du deine Arbeit sehr ernst nehmen, weil du dir vorstellst, dass jemand nachts um zwei Uhr morgens in deine Notaufnahme spazieren wird und du sein Leben wirst retten müssen. Nun, meine Freunde, eines Tages um 20 Uhr wird jemand in deine Konzerthalle gehen und einen verwirrten Geist mitbringen, ein überfordertes Herz, und eine erschöpfte Seele. Ob diese Person als Ganzes wieder ganz herausgehen wird, hängt mindestens zum Teil davon ab, wie gut du dein Handwerk ausübst.“
Natürlich hat mit einiger Wahrscheinlichkeit keiner der Bandmitglieder von Basement, Up North oder Touché Amoré Musik studiert, vielleicht auch noch nie einen Fuß in eine Hochschule gesetzt. Aber das kathartische Feuerwerk, das gerade die Letzteren an diesem Montagabend abbrennen, steht der beschriebenen reinigenden Wirkung in nichts nach. Angefangen mit der Kölner Melodic-Hardcore-Band Up North, die gemeinsam mit den Grunge-Emo-Rockern Basement die perfekte Blaupause für den Headliner des Abends geben und für die auch schon eine beachtliche Anzahl von Anhängern vor der Bühne steht, droht das ausverkaufte Zakk schon im Vorfeld zu einem brodelnden Hexenkessel zu werden.
Das Quintett aus Los Angeles kommt mit ihrem Post-Hardcore-Klassiker „~“ auf die Bühne und Jeremy Bolm singt sich seine innere Zerrissenheit vom Herzen: „I’m parting the sea/Between the brightness and me“ und der komplette Club brüllt Zeile für Zeile mit – bis zum letzten Ton den Konzerts. Ob es nun der Verlust der eigenen Mutter ist, das Gefühl, nicht gut genug zu sein, oder einfach nur diese unterschwellige Angst vor dem, was vielleicht noch kommen könnte - diese Band hat es sich anscheinend fast schon nach christlichem Vorbild die Aufgabe gemacht hat, all das Leiden ihrer Anhänger auf ihre Schultern zu nehmen. Dafür reichen dann unglaublicherweise auch nur die gute Stunde Show, die die Kalifornier auf die Bühne bringen.
Im Minutentakt steigen Fans auf die Bühne und werfen sich mit anarchischer Gewalt in die Menge, längst zu einer undefinierbaren, durchmoshenden Masse geworden. Egal ob von außerhalb dieses Sturms aus Emotionen und unterdrückten Gefühlen, die hier ihren Ort zum Ausbrechen gefunden haben, oder gerade mittendrin – der ganze Raum fühlt, wie gut es tut, jemanden wie Jeremy Bolm zu haben, der die inneren Dämonen, derer man sich doch eigentlich nur entledigen will, stellvertretend für uns alle hinausschreit. Damit zumindest ein Teil der mehreren hundert Menschen, die diesen Abend im Zakk beigewohnt haben, als Ganzes wieder nach Hause geht.