Die Zitadelle Spandau, am nordwestlichen Rand von Berlin gelegen, bietet neben einem Festungswassergraben (!) und reichlich Historie auch Platz für Open-Air-Veranstaltungen mit bis zu 10.000 Menschen. Und in der ausverkauften Zitadelle bringt Casper um kurz nach 20:00 Uhr mit „Alles war schön und nichts tat weh“ die Menge zum Beben. Die Ekstase entsteht wohl über das tatsächlich endlich stattfindende, vor zwei Jahren angekündigte Konzert, aber vermutlich auch wegen Caspers Bühnenpräsenz und dem Klang mit Cello. War das Publikum zu Beginn noch etwas zurückhaltend, ist jede in zwei Jahren Pandemie aufgebaute Schüchternheit mit „Im Ascheregen“ wie weggeblasen. Auch die obligatorischen „EYYY!“s beim folgenden Track „Auf und Davon“ werden inbrünstig mitgebrüllt. Mit „Alles endet, aber nie die Musik“ beschreibt Casper exakt das, was viele in aktuellen Zeiten fühlen und das spürt man auch in Spandau. Nach „Adrenalin“, wo einige sicherlich auf den Überraschungsgast Marteria gehofft haben, kommt mit „Grad ist alles ganz schön okay“ das erste Live-Feature – der später mit Kraftklub auftretende Felix Kummer betritt mit Basecap höchstmotiviert die Bühne. Mit „Supernova“ existiert weiterhin der Wunsch, Marteria möchte doch bitte die Bühne betreten – wäre er vielleicht auch, wenn er nicht am selben Abend eine Show in Hannover gespielt hätte. Mit dem nächsten Song „TNT“ wird ein weiterer Featurewunsch wahr, der Reutlinger Rapper TUA, der dem Song auf dem Album seine besondere Gesangsstimme verlieh, unterstützt in der Zitadelle. Bei den ersten angespielten Tönen von „Hinterland“ beginnt das Publikum zu singen, was Casper aber mit der Aussage „Wartet kurz, das will ich nochmal haben, wir hatten hier grad sowas wie nen Kanon“ unterbricht und koordiniert neu startet. Die beiden folgenden Songs „Hinterland“ und „Lass es Rosen für mich regnen“ unterstützt die bombastische Backgroundsängerin und Cellistin, zu der sich aber absolut keine Informationen finden lassen. Mit „Jambalaya“ ist nach knappen 45 Minuten auch schon wieder Schluss und es geht in die kurze Umbaupause für Kraftklub.
Die Jungs aus Chemnitz stürmen mit „Unsere Fans“ die Bühne und sorgen direkt für mächtig Stimmung – allerdings zeigen sich hier das erste Mal die Soundprobleme, die im Lauf des Abends noch öfter auftreten sollen. Der Mix ist leider so merkwürdig, dass die Gitarren kaum hörbar sind – das wurde wenigstens relativ schnell zumindest etwas besser. Wie soll es bei einem Konzert in Spandau anders sein, als zweiter Track wird „Ich will nicht nach Berlin“ angespielt und das Publikum brüllt (teilweise vermutlich ironisch) lauthals mit. Beim Brüllen bleibt es nicht und das Moshpit wird scheinbar schnell so aggressiv, dass einige Menschen nach vorne in den Graben rausgezogen werden müssen und Felix sich dazu genötigt fühlt, eine Awareness-Ansprache zu halten. Im Anschluss wird der jüngst erschienene Track „Wittenberg ist nicht Paris“ live debütiert. Dass Kraftklub heute ohne Schlagzeuger Max Marschk performt, fällt dank der grandiosen Performance der Berliner Schlagzeugerin Linda Philomène Tsoungui gar nicht erst groß auf, und trotzdem spricht Felix an, dass er zwar nicht genau sagen könne, warum Max heute fehlt, aber er soll Grüße ausrichten und „es ist wegen was Schönem!“. Auch der andere gerade erst neu erschienene Track „Ein Song reicht“ begeistert die Massen, noch mehr aber, als Felix eine Begegnung mit Nazis schildert und das gesamte Publikum „Nazis raus“ skandiert. Wie könnte es besser passen, als nächstes wird „Schüsse in die Luft“ gespielt. Leider fällt hier zwischendurch das Mikro aus. Mit dem Zitat „Gewalt ist scheiße und so aber ja manchmal muss man sich wehren und manchmal ist es Zeit für Randale“ wird der gleichnamige Song eingeführt, bei dem auf der Bühne Flaggen mit dem Randale-Logo geschwenkt werden. Während „Chemie Chemie Ya“ verabschiedet sich auch langsam die Sonne, die das Open Air in etwas wärmeres Licht getaucht hatte. Als Abschlusstrack spielen Kraftklub „Songs für Liam“ – mit der Zwischenstrophe Caspers, die schon bei einigen Kraftklub-Konzerten in Berlin zu hören war, bei der das Mikro aber wieder zu leise ist. Wäre der Text ohne Technikprobleme akustisch komplett verstanden worden, wäre das ein wirklich geniales Ende des Kraftklub-Auftritts gewesen, so bleibt nach 42 Minuten Set ein leises „Hätte, wäre, könnte“ im Kopf.
Und schon ist es 22:00 Uhr und KIZ betreten mit einem Remix von „Everybody“ der Backstreet Boys die Spandauer Bühne – der dann dank Live-DJ Joe von den Drunken Masters übergeht in „Ich ficke euch alle“. Genau wie beim folgenden Song „VIP in der Psychiatrie“ ist die Stimmung direkt nochmal etwas ausgelassener, zudem scheinen einige Menschen die Wiedervereinigung 2 nach Kraftklub verlassen zu haben – war aber auch erwartbar, wenn man diese zusammenpassenden und doch unterschiedlichen Acts zusammenschmeißt. Die Ansage „Der nächste Song wird präsentiert von Platincasino, dem Onlinecasino eures Vertrauens“ seitens der K.I.Z-Jungs wirft die Frage auf, ob das nicht eventuell sogar ernst gemeint ist – erwarten könnte man das irgendwie. Der besagte Song ist „Urlaub fürs Gehirn“, an den „Hurra die Welt geht unter“ anschließt. Und wahrscheinlich war schon lange eine Crowd nicht mehr so textsicher wie bei ALLEN Strophen des hochpolitischen Weltuntergangshits. Nach einigen aufheizenden klassischen K.I.Z-Party-Hits („Unterfickt und geistig behindert“, „Berghainschlange“, „Lecken im Puff“, „Bier“ und „Filmriss“) und Streits über das nächste Intro geht es mit dem Titelhit des aktuellsten Albums „Rap über Hass“ weiter – mit viel Gesellschaftskritik und leider ohne Livefeature von Nura. Nachdem die Crowd bei „Ein Affe und ein Pferd“ eine tragische Unfähigkeit für rhythmisches Klatschen zeigt, leiern K.I.Z ein „Happy Birthday“-Ständchen für ihr an diesem Tag einjähriges Album an, es hatte etwas Sadistisches. Bei „Kinderkram“ tauchen plötzlich erstaunlich viele Feuerzeuge für ein Konzert 2022 auf – und leider auch wieder Technikprobleme. Maxim klingt zwischendurch sehr blechern, der Beat fast dumpf. Und dann wird die Bühne plötzlich voll und K.I.Z performen gemeinsam mit Kraftklub und Casper als Supergroup „Achtzig Tausend Millionen“, ein vor Popplattitüden strotzender, vom unrhythmischen Crowdklatschen begleiteter Song mit Zeilen wie „Nimm meine Hand, es ist noch lange nicht zu spät“ – backstage vermutlich in etwa 12 Minuten geschrieben. Aber ist ja auch nett, die Möglichkeit zu nutzen, diese drei Acts zusammen auf die Bühne zu bringen, wenn es schon so ein Lineup gibt.
Nach knappen drei Stunden inklusive Umbaupausen ist das Konzert somit auch schon wieder vorbei – allerdings verzögert sich der Ausgang für die Letzten durch einen Rettungseinsatz um fast eine Stunde. Auch wenn alles ruhig geblieben ist und auch die Ein- und Ausfahrt des Rettungswagens gut organisiert wurde, stellt sich dennoch die Frage, ob die Zitadelle als Festungsinsel mit einem einzigen Ausgang über eine dafür recht schmale Brücke für 10.000 Zuschauende wirklich geeignet ist – auch wenn sie definitiv ein wunderschönes Flair bietet.