die ärzte und ich, wir bewegen uns seit vielen Jahren in Phasen. Es gibt solche Phasen wie die im letzten Sommer, wo ich zuerst vor Vorfreude und nach dem Konzert in Köln in totaler Euphorie kaum etwas anderes gehört habe. Und dann gibt es die Phasen, wo so viel anderes auf dem Musikmarkt passiert, dass die ärzte bei mir fast etwas in Vergessenheit geraten. In denen hin und wieder mal ein Song in einer Playlist eher durch Zufall gespielt wird und der Fokus einfach woanders liegt. So eine Phase war es auch im August in diesem Jahr, als die ärzte ihre "Herbst des Lebens"-Tour ankündigten und ich den Tag des Vorverkaufs zwar registriert, aber nach Sichtung der Daten das Ganze irgendwie doch als "zu spontan" abgetan habe. Als der besagte Tag dann kam, schaute ich etwa eine Viertelstunde nach Start des Ticketverkaufs eher aus Neugierde in den Shop und stellte fest: AUSVERKAUFT. Und wie es leider manchmal so ist mit den Dingen, die man nicht haben kann, begann ich in genau diesem Moment zu bereuen und auf einmal war er da, dieser Wunsch unbedingt zu dieser Tour zu wollen. Ein paar Tage später hatte ich mir über Rückläufer insgesamt sechs Tickets für Köln und Bielefeld organisiert und hatte Gewissheit, "Die beste Band der Welt" innerhalb von 14 Tagen zwei Mal live sehen zu können. Welche Phase mit dieser Gewissheit wieder bei mir einsetzte, könnt ihr euch wohl denken.
Ich kenne die ärzte seit circa 20 Jahren und habe mir im Laufe der Zeit so ziemlich alle Alben mindestens als CD und mittlerweile zumindest teilweise als Vinyl organisiert. Die Liebe zur Musik dieser Band hat in dieser Zeit, auch wenn sie manchmal in den Hintergrund tritt, nie aufgehört. Die Band kann also, bis auf ganz wenige Ausnahmen, spielen was sie möchte, ich bin textsicher am Start. Doch auch wenn Farin Urlaub einmal in einem Interview sagte, das Verraten der Setlist würde die ganze Überraschung kaputt machen, konnte ich nicht anders und habe mir beide Setlists der Toureröffnung in Wien jeweils am folgenden Tag angeschaut. Zu diesem Zeitpunkt war ich lediglich im Besitz der Tickets für den zweiten Abend in Köln und fasste dadurch erst den Entschluss, auch einen "ersten Abend" erleben zu müssen, um so viele Songs wie möglich live sehen zu können. Dass dieser Gedanke bei die ärzte nur bedingt aufgeht, dazu kommen wir später noch.
Das Palladium in Köln erreiche ich, zumindest zum Parken, fast drei Stunden vor Einlass. Bereits jetzt sitzen unzählige Fans der Band mit Stühlen und Kaltgetränken vor der Location und spekulieren auf die vordersten Reihen, wenn Bela, Farin und Rod in fast fünf Stunden zum Tanz auffordern werden. Ich weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass mein Gedanke es so leicht zu haben vor die Bühne zu kommen wie es zuletzt bei den Donots oder Thees Uhlmann im gleichen Laden der Fall war ganz weit gefehlt ist. Also fahren wir erst einmal in die Stadt, treffen uns mit dem aus unserem Kaff nach Köln ausgewanderten Freund Leon und gehen die ganze Sache ganz entspannt an. Die bereits prall gefüllte ehemalige Maschinenbauhalle betreten wir ohne Wartezeit vor der Tür erst etwa 45 Minuten vor dem geplanten Beginn des Konzerts von die ärzte, eine Vorband ist nicht mit auf Tour. Den Adleraugen des Kölner Punkrockpublikums entgeht zu diesem Zeitpunkt nicht die Anwesenheit von Ingo Donot auf der Empore. Ingo wirft nach Gesängen seines Namens breit grinsend Küsschen in die Menge. die ärzte selbst sind pünktlich und um 20:00 Uhr erlischt das Licht zum Intro. Das Fallen des schwarzen Vorhangs zum Opener "Wer verliert, hat schon verloren" erleben wir etwa aus der Mitte der Halle. Da die ärzte im Vergleich zur letztjährigen Stadiontour deutlich kleinere Locations ausgewählt haben, ist das immer noch verdammt nah dran. Die ärzte spielen "Lied von Scheitern" direkt hinterher und bringen anschließend das Publikum mit "Ein Lied für dich" zum kompletten durchdrehen. Beinahe die gesamte vordere Hälfte der Halle gibt sich dem Pogo hin, es wird gesprungen, gesungen und vor allem: Geschwitzt. Der Tag in Köln war ziemlich warm, der Innenraum des Palladiums setzt noch einmal einen drauf.
Es folgen fast drei Stunden für die Band typische Unterhaltung. Wir bekommen die Tourpremiere von "Dein Vampyr" aus dem Jahr 1985 serviert, die ärzte singen über Bananen, Geld, Tamagotchis und dem lautstark mitgesungenen "immer mitten in die Fresse rein"-Hauen. Für Politik bleibt Zeit, wenn "Our Bass Player Hates This Song", "Doof" oder "Deine Schuld" gespielt werden, die Romantiker kommen zum Beispiel bei Rods "1/2 Lovesong" oder wenn Farin Urlaub alleine auf der Bühne sitzend "Leben vor dem Tod" zum Besten gibt auf ihre Kosten. Wir Fans schaffen es uns den eigentlich nicht vorgesehenen Titel "El Cattivo" solange zu wünschen, bis die Band ihn im letzten Zugabenblock tatsächlich spielt, bevor "Junge", "Schrei nach Liebe" und "Dauerwelle vs. Minipli" das Konzert eskalativ ausklingen lassen. Was zwischen all diesen Titeln passiert, ist in seiner Witzigkeit nicht wiederzugeben. Ich frage mich bereits während der Show ernsthaft, wie man als Band SO harmonieren kann. Farin und Bela liefern sich immer wieder Vorlagen, beziehen die ersten Reihen in ihre Gags mit ein und brechen Songs einfach ab um noch eine Anekdote einzuwerfen und von vorne anzufangen. Rod steht manchmal einfach kopfschüttelnd daneben oder geht kurz an seinen in den Amps versteckten Kühlschrank mit reichlich Nebeleffekt. Ich habe einmal die Aussage aufgeschnappt, dass wirklich kein Konzert von die ärzte genauso wie das andere ist. Nach zwei von mir selbst in Köln erlebten Shows in zwei völlig unterschiedlichen Größenordnungen kann ich diese Aussage unterschreiben. Bleibt die Frage, was in zwei Wochen in Bielefeld bei meinem dritten Besuch dieser Band auf mich wartet.
Zeitsprung: 14 Tage später betrete ich zum ersten Mal in meinem Leben das Stadtgebiet von Bielefeld, parke das Auto in einem Wohngebiet und gehe den heutigen Tag erneut mit Leon an, der wie ich vor zwei Wochen in Köln erneut in die totale die ärzte-Phase gerutscht ist. Nach einem kurzen Date mit einem weiteren ehemaligen Schulkollegen in der Bielefelder Innenstadt (die gibt es wirklich!) finden wir uns in einer mehrere hundert Meter langen Schlange vor dem Lokschuppen wieder. Die Location ist genau das, wonach sie benannt ist: Ein ehemaliger Ringlokschuppen, in den heute circa 3.000 Menschen strömen, um der besten Band der Welt beizuwohnen (ich meine den Slogan der Band übrigens sehr ernst). Der Innenraum des Lokschuppens kommt mir etwas geräumiger als das Kölner Palladium vor, ist vor allem breiter. Das führt dazu, dass man zwar ein paar mehr Zentimeter Platz um sich herum hat, unfassbar warm wird es hier trotzdem wieder.
Heute finden wir uns etwa im vorderen Drittel der Halle ein, lauschen dem Intro, sehen den schwarzen Vorhang fallen und bekommen schon mit dem dritten und vierten Song ("Mein Baby war beim Frisör" und "Ist das alles?") Nummern zu hören, die uns in Köln verwehrt blieben. Jackpot! Dieser Umstand trifft heute auf insgesamt mindestens 13 Stücke zu, die mir beim nachträglichen Überfliegen der Setlist sofort ins Auge stechen. die ärzte tauschen gut ein Drittel ihrer Setlist durch und graben dabei immer wieder Lieder aus ihrer absoluten Anfangsphase aus. Am heutigen Abend findet zum Beispiel "Anneliese Schmidt" den Weg in die Show. Bela B übernimmt hier nach Abstimmung des Publikums das Gitarrensolo, Farin setzt sich für diese Zeit ans Schlagzeug. Auch dass "Achtung: Bielefeld" (wann, wenn denn nicht heute?!) gespielt wird, haben wir bereits beim Burger am Nachmittag als unausweichlich gegeben herbeiphilosophiert. Vom Klamauk drumherum, und von dem gibt es auch am ersten Abend in Bielefeld reichlich, habe ich in Köln keine Silbe genauso gehört. Wo bei Comedians oft ein Programm zumindest in großen Teilen auf einer Tour dem anderen gleicht, packen die ärzte Abend für Abend neuen Schwachsinn sowie schlagfertige Dialoge aus, genießen die Lacher und performen gleichzeitig musikalisch auf unfassbar hohem Niveau. Dieses Gesamtpaket funktioniert seit dem Jahr 1982, als die Band entschied sich von der Antihaltung des damaligen Punks abzuwenden und Humor sowie textliche Vielfalt zuzulassen. Und wenn diese Band dann im Jahr 2023 immer noch auf der Bühne steht und nach knapp 40 Jahren Bandgeschichte davon singt, das Nachbarskind Anneliese Schmidt aufzuessen, dann singt ein prall gefüllter Lokschuppen diesen Quatsch nun einmal mit.
Eine Frage an mich selbst muss ich jedoch zulassen: Warum habe ich eigentlich fast 20 Jahre verschwendet, bevor ich Teil dieser Konzerte geworden bin? Und auch hierüber wird es irgendwann, wenn es diese Band nicht mehr geben wird, wie beim Vorverkauf der "Herbst des Lebens"-Tour tiefes Bereuen in mir geben. Da bin ich mir sicher.