Donnerstag, 18. Januar 2018. Ich komme aus meiner Heimatstadt Hamburg, dem Ort, an dem an 365 Tagen im Jahr steife Brisen wehen, die norddeutsche Originale nur noch als Lüftchen abtun, während sie sich insgeheim aber vielleicht doch manchmal an einen etwas milderen Ort wünschen. Aber an jenem 18. Januar sollte alles anders werden. Sturmtief Friederike tobte durch Deutschland, fokussierte seine stärkste Kraft aber vor allem in den mittleren Teilen des Landes. Endlich war der Tag gekommen, an dem Hamburg einmal nicht die windigste Stadt der Republik sein sollte. Und wo befinde ich mich? Natürlich im schaukelnden Fernbus nach Münster, genau auf dem Weg ins Auge des Sturms.
Ein Symbolbild, das vielleicht ansatzweise beschreiben kann, welche Strapazen Menschen auf sich nehmen, um ihre Lieblingsband an vielen Abenden immer und immer wieder sehen zu können. Sechs Konzerte sehe ich auf der knapp zweiwöchigen Fjørt-Tour, und bin dabei noch lange nicht am Gipfel der Fahnenstange angelangt. Auf meiner Reise lerne ich Merten und Bene kennen, die Tickets für alle 13 Konzerte besitzen und jeden Abend aus voller Kehle mitschreien. Das ist eine Liebe, die man wohl rational schon lange nicht mehr erklären kann, die sich aus irgendeinem Grund aber einfach richtig anfühlt. Denn das Tourleben beinhaltet eben nicht nur lange Fahrten und täglich laute Abende, sondern auch unvergessliche Erlebnisse, Treffen mit alten und neuen Freunden und das Gefühl, für eine kurze Zeit in ein beinahe surreales Gefühl von Freiheit zu entfliehen.
Ebenjenes Gefühl verkörpern Fjørt auch auf ihren Konzerten. Die Songs des Aachener Trios sprechen von menschlichen Abgründen und inneren Konflikten, schaffen aber gerade dadurch den Kontrapunkt, um sich diesen Problemen zu stellen. Bei Fjørt-Konzerten verschwimmen die Hierarchien zwischen Band und Publikum, und gerade Bassist David Frings sucht quasi pausenlos die Nähe zu seinen Fans, um mit ihnen gemeinsam Frust und Bitterkeit aus den Lungen zu entlassen. Da wird es langsam schon fast zum Problem, dass die Band immer populärer und die Locations der Tour entsprechend immer größer werden. Im Leipziger Werk 2 steht gar eine Barriere vor der Bühne, die mit der Show von Fjørt eher semi-gut kooperiert. Dafür sind andere Abende um so unglaublicher. Das Gleis 22 in Münster ist zum Beispiel so viel kleiner als die anderen Clubs der Tour, dass Fjørt diesen prompt zwei Mal ausverkaufen. Das Beatpol in Dresden ist hingegen so monumental wie kaum eine andere Spielstätte der Tour, trotzdem stimmt hier für mich einfach alles, und Merten und ich werden beim Stagediven von der Masse Arm in Arm getragen.
Fjørts neues Werk „Couleur“ kommt bei Fans wie Kritikern gleichermaßen gut an, und so ist es kein Wunder, dass sich die Band auf dieser Tour vornehmlich den neuen Songs widmet. Mit Ausnahme von „Fingerbreit“, „Bastion“ und „Zutage“ spielt das Trio sämtliche Tracks ihrer jüngsten Platte. Durch den rebellischeren und widerspenstigen Sound des Werks wird die Setlist wieder zu einem raueren Erlebnis als noch auf der vorherigen Tour, trotzdem versteht es die Band, ihren Wutbrocken zwischendurch immer wieder zarte Flügel zu verleihen. So verpassen die Aachener dem Song „Couleur“ etwa ein ausschweifendes Intro, arbeiten auf „Magnifique“ mit konzentrierter Ruhe hin und zelebrieren einmal mehr die sublime Einleitung von „D’accord“. Damit gewinnen Fjørt eine Varianz, die sich auch auf die Auswahl der drei tollen Vorbands übertragen lässt: Être vermischen stürmischen Post-Hardcore mit Rap, East spielen ihren Alternative-Emo mit voller Liebe aus, Lirr finden im Hamburger Knust für ihre abstrakte Krachfabrik kaum genug Platz auf der Bühne.
Es gäbe so vieles über diese sechs Konzerte zu erzählen. Zum Beispiel, wie Gitarrist Chris Hell auch langsam immer stärker aus sich herauskommt und an den Bühnenrand tritt, wie Drummer Frank Schophaus das irre Trommel-Gewitter in „Windschief“ einfach jeden Abend besser zu beherrschen scheint oder wie Merten und Bene beim letzten Mal „Couleur“ zum Tourabschluss in Hamburg andächtig Rosen in die Luft strecken. Aber trotzdem sind die Konzerte auf solchen Reisen zwar der essentielle Dreh- und Angelpunkt, aber nur die Spitze des Eisbergs. Denn was das Leben auf Tour wirklich besonders macht, sind die Erlebnisse mit vielen alten und neuen Freunden, das Ergründen neuer Städte, das Gefühl, ein Abenteuer zu erleben. Und so erinnere ich mich nicht nur Abend für Abend an fantastische Auftritte, sondern auch an billige Riesenpizzen in Leipzig, an Popcorn und Donuts im Highfield-Laden, während man gemeinsam mit der Band ein Making-Of ihrer jüngsten Videoproduktionen guckt, an eine wilde Party in Dresden, an einen Filmabend spätnachts in Münster, an angeregte Diskussionen überall, an viele verschiedene kuschelige Betten und die Leute, die sie mir zur Verfügung gestellt haben. Ich glaube, es sind genau diese Augenblicke, die erklären können, warum sich Menschen auf solch anstrengende Reisen begeben. Es ist das Gefühl, für eine kurze Zeit alle Normalität hinter sich lassen zu können und nur für das zu leben, wofür man wirklich brennt. Und das ist jede wackelige Fernbus-Fahrt mehr als wert.