Das Reeperbahn Festival ist nicht nur für sein unheimlich geschmackvolles Booking und sein einzigartiges Flair gut, sondern zeigt vor allem, welche unendlichen Möglichkeiten die Clubkultur von Hamburg für ein derartiges Event bietet. Wo sonst findet man dermaßen viele Konzert-Locations auf einem Fleck, wo sonst kann man in derart kurzer Zeit von der legendären Großen Freiheit 36 in das winzige Indra gelangen, und wo sonst gibt nebenbei noch so besondere Spielorte wie die Elbphilharmonie oder die St.-Michaelis-Kirche, kurz „Michel“? Vor allem wegen seiner örtlichen Beschaffenheit hat das Reeperbahn Festival einen Sonderstatus in Europa, und da ist es dann auch nur noch halb verwunderlich, dass Muse ihr kommendes Album „Simulation Theory“ zum allerersten Mal anlässlich des gigantischen Branchentreffens im Hamburger Docks präsentieren.
Der erst einen Tag vorher angekündigte Auftritt der britischen Electronic-Alternative-Götter sorgt für viel Aufsehen und enorme Warteschlangen – auch, weil Warner Music den Hype ordentlich füttert und denjenigen garantierten Einlass verspricht, die einen Highscore auf einem der extra angeschafften Pacman-Automaten erzielen. In erster Linie lebt das Reeperbahn Festival aber natürlich von den kleinen Perlen, denen man im gigantischen Angebot des Festivals eher zufällig über den Weg läuft. In diesem Jahr ist das offizielle Partnerland Frankreich, dass am Festivaleröffnungstag gleich zwei Highlights zu bieten hat. Zum einen Flavien Berger, der mit seinen verqueren Electro-Pop-Spielereien auch unter anderem deswegen eine ganz besondere Atmosphäre verbreitet, weil er sie im Schmidt’s Tivoli, einem Theater darbietet. Nur wenig später spielen in der Sky Bar, dem schnuckeligen Dachzimmer des Molotows, die Noise-Punks Decibelles und reißen mit musikalischem Witz und grandiosen Songs wirklich alles ab.
Decibelles bestehen zu zwei Dritteln aus Frauen stehen damit für eine Initiative, an der sich das Reeperbahn Festival in diesem Jahr zusammen mit zahlreichen anderen Events erstmals beteiligt. Keychange hat zum Ziel, die Line-ups seiner teilnehmenden Festivals bis zum Jahr 2022 zur Hälfte aus Frauen bestehen zu lassen. Ein wichtiger Schritt in der Musikbranche, die vor allem am oberen Ende der Hierarchie eine gewaltige Männerdomäne darstellt. Beim Reeperbahn Festival zeigt sich der zunehmende Einfluss von Frauen angenehm deutlich – sei es bei Ilgen-Nur, die im Mojo ihren sorglosen Garage-Grunge präsentieren, oder bei Milk & Bone, die die etwas sterile Atmosphäre des Kukuuns mit ihrem Electro-Pop erwärmen.
Das einzige Problem beim Reeperbahn Festival: Die Highlights sind derartig zahlreich, dass man gar nicht weiß, wohin man gehen soll. Definitiv etwas verpasst haben zum Beispiel alle, die bei Amber Run nicht im Uebel & Gefährlich standen. Der Alternative-Indie der Briten verfolgt eine obskure Mischung irgendwo zwischen Mumford & Sons und Fjørt, die schlicht begeistert. Ebenso beeindruckend ist Rapper Disarstar, dessen Anti-AfD-Zeilen in „Alice im Wunderland“ vielleicht ein Publikum erreichen kann, das für zahlreiche antifaschistische Punk-Bands weit entfernt liegt. Und Muse? Die spielen toll, aber nicht überragend. Die Magie dieser vier Tage auf der Partymeile liegt eben doch im Kleinen, nicht im Gigantismus.