Am Zeltplatz angekommen baue ich meine kleine Herberge auf. (Ich stelle fest: Ich bin tatsächlich der Einzige auf einer ansonsten komplett leeren Zeltwiese und somit der einzige Idiot, der um diese Jahreszeit noch auf die Idee kommt, zu campen. Aber war ja billiger als ein Hostel.) Den Nachmittag verbringe ich mit Schlafen (reingefeiert habe ich am Vorabend natürlich trotzdem, hatte also einiges Nachzuholen) und einem Telefonat mit meiner zur Zeit im Ausland weilenden Freundin, das wahrscheinlich teurer war als die kompletten Platzgebühren. Am Abend mache ich mich mit der Bahn auf den Weg ins Bielefelder Zentrum, genauer gesagt in den Club „Forum“, wo der erste meiner insgesamt vier Abende auf dieser Tour stattfinden soll. Das „Forum“ wirkt auf mich wie ein großes Jugendzentrum, bei Kicker und Bar trifft sich hier die Szene. Tatsächlich halte ich die Größe der Location für so eine Band für ziemlich ambitioniert, dennoch füllt sich der Raum kurz vor dem Auftritt der Vorband Ashes Of Pompeii gut. Das etwas schüchterne Publikum steht zunächst noch etwas abseits der Bühne (der „westfälische Halbkreis“, wie man mir später erklärt), nach kurzer Aufforderung des Sängers rücken aber alle ein Stück näher heran („Ich hätte nie gedacht, dass das wirklich funktioniert“). Ashes of Pompeii spielen Post-Hardcore allererster Güte, sind noch etwas brachialer als ihre Kollegen von FJØRT. Die Menge honoriert das mit höflichem Applaus, manch einer schreit nach dem rund dreißigminütigen Auftritt aber sogar nach einer Zugabe – eine höhere Ehre kann einer Vorband kaum zukommen.
Während der Wartezeiten komme ich schnell mit Leuten in Kontakt, und mein Eindruck eines Szenetreffs bestätigt sich. Einen Fan werde ich sogar am nächsten Tag in Bremen wiedersehen, und ich bin froh, mit meiner frenetischen Leidenschaft nicht ganz allein da zu stehen. Als Fjørt pünktlich um 22 Uhr mit einem atmosphärischen Intro die Bühne entern, erhöht sich mein Herzschlag unverzüglich und mir fällt wieder ein, warum ich dieses Gefühl jeder Geburtstagsfeierlichkeit vorgezogen habe. Das Publikum lässt sich nicht bei jedem Song zu einem Moshpit hinreißen, das tut dem Genuss aber keinen Abbruch: Die Band schafft mit ihrem Sound Musik, zu der man einerseits kompromisslos abgehen kann, die aber auch mit geschlossenen Augen zum Träumen einlädt. Eine atmosphärische Meisterleistung, die live nochmal ein ganz anderes Level erreicht. Spätestens bei der B-Seite „Courage“ ist Gänsehaut angesagt: Ohne Mikro gehen Chris und David, die Stimmen hinter FJØRT, aufs Publikum zu, und singen gemeinsam mit den Fans die wunderbar poetischen Zeilen des Refrains. Die scheinen zwar außer mir nur ungefähr drei Leute zu kennen, der Magie dieses Moments tut das aber keinen Abbruch, und ich werde mich fortan Abend für Abend auf diesen Augenblick freuen. Das ist Livemusik!
Beseelt und mit neuem T-Shirt im Gepäck verlasse ich den Club nach 90 Minuten der Hauptband wieder. Am Hauptbahnhof angekommen gönne ich mir noch ein belegtes Baguette zum Abendessen, um dann festzustellen, dass keine Bahn mehr zu meinem Campingplatz fährt. Ups. Also acht Kilometer mit von meiner liebsten Chipotle-Sauce komplett ausgetrocknetem Mund zu Fuß laufen. Auf den ersten Metern fährt gleich ein Nachtbus an mir vorbei, der mich auch zum Ziel gebracht hätte. Nochmal ups. Mit meinem Handy als einzige Orientierung in der Hand beginnt meine nächtliche Odyssee. Natürlich verlaufe ich mich. Beim ersten Mal laufe ich über einen dunklen Friedhof, das einzige Licht spenden mir ein paar brennende Teelichter. Herrlich, genau so hatte ich mir das vorgestellt. Aber es kommt noch schlimmer: Am Fuße eines Bergs stelle ich fest, dass ich eigentlich auf dem Weg AUF dem Berg sein sollte.
Auf welch geniale Idee komme ich also? Ich klettere, anstatt zurück zum normalen Weg hinauf zu laufen. Nach mehrmaligem Ausrutschen und der Feststellung, dass der Berg deutlich höher und steiler ist als gedacht, gelange ich nach oben, nur um festzustellen, dass hier kein Weg ist. Im Gedanken, dass ich bald wieder auf normalen Pfaden wandern könnte, kämpfe ich mich durch dorniges Gestrüpp, gelange aber schließlich zur Erkenntnis, dass ich mir falsche Hoffnungen mache. Also wieder runter. Dummerweise finde ich die Stelle, an der ich hochgekraxelt bin, nicht mehr. Überall scheitere ich an Dornen, stürze fast in die Tiefe oder hänge in Büschen fest. Nach mehrfachen Überlegungen, ob ich meine verbleibende Akkuladung lieber zum Verfassen meines Testaments oder zum Rufen der Feuerwehr nutzen sollte, finde ich schließlich doch noch den Ausweg. Mit den Nerven am Ende und todmüde erreiche ich schließlich um halb zwei mein Zelt, wo mir meine Fitness-App süffisant mitteilt, ich hätte mein Schrittziel für heute erreicht. Immerhin etwas.
Nach vier Stunden herrlichstem Schlummern bei fünf Grad Außentemperatur fahre ich weiter mit dem Bus nach Bremen. Dort verbringe ich einen wunderbaren Tag mit einer ehemaligen Kommilitonin, bei der ich mich auch duschen und frisch machen kann (Notiz: Mein Körper sieht nach der gestrigen Klettertour aus wie das Gesicht von Freddy Krueger). Am Abend begebe ich mich in den Bremer Tower: Ein kleiner, uriger Club ohne wirklichen Backstage, was das Umbauen extrem verkompliziert. FJØRT liefern die selbe fantastische Show wie am vorigen Tag, das Publikum ist aber ziemlich verhalten. Als kurz vor Schluss der Opener und Titeltrack des ersten Albums, „D’accord“, ertönt, erinnere mich daran, wie ich diesen Song das erste Mal hörte und er meine Vorstellung von Musik komplett auf den Kopf stellte. Ich werde so emotional, wie ich es wohl noch nie bei einem Hardcorekonzert war. Um ja keine Vorlesung in der Uni zu verpassen, lasse ich die Show in Rostock aus und nehme noch um ein Uhr nachts den Bus nach Hamburg zurück. Nach drei Stunden in meinem Bett verpasse ich beinahe meinen Wecker, hetze durchgeschwitzt und verpennt zu meinem Institut – nur um vor verschlossenen Türen und einem Hinweis, die Dozentin sei erkrankt, zu stehen. Na toll.
Der freie Tag tut mir gut, und ich bin extrem motiviert für das Konzert in Potsdam. Und da bin ich nicht allein: Es ist Freitag, die Leute trinken fröhlich, und die Stimmung im Waschhaus kocht schon, bevor Ashes Of Pompeii die Bühne überhaupt betreten haben. Entsprechend wird dann auch bei der Hauptband gefeiert, der Pit tobt unermüdlich vom ersten bis zum letzten Song, und ich genieße es, auf dieser Tour auch mal die wilde Seite der Band erleben zu dürfen. Als Drummer Frank mir am Ende einer schwitzigen und ausgelassen Show einen Stick in die Hand drücken will, verliere ich den leider an einen anderen Fan – und könnte mir in den Arsch beißen, dass ich diese Erinnerung an ein denkwürdiges Erlebnis nicht mitnehmen konnte. Am nächsten Morgen frage ich mich, warum zur Hölle ich bei der Planung dieser Reise den Bus nach Leipzig eigentlich schon um 10 Uhr morgens nehmen musste (wahrscheinlichste Antwort: war am billigsten). So spaziere ich also, sichtlich geschafft von meinem bisherigen Trip, durch die Straßen der größten Stadt Sachsens. Schöne Plattenläden und kostenloses WLAN vertreiben mir dabei die Wartezeit auf den Abend. Vor dem Leipziger Felsenkeller treffe ich dann auf Meister Lucio höchstpersönlich, seines Zeichens Gründer dieses wunderbaren Fanzines. Gemeinsam leeren wir an der Theke das ein oder andere Bier, bevor FJØRT ein letztes Mal ihr Posthardcore-Gewitter auf mich loslassen. In der feierwütigen Menge genieße ich noch einmal all die magischen Facetten, die die drei Aachener in ihrer Show bieten. Bedingungsloses Ausrasten bei „Paroli“. In Erinnerungen schwelgen bei „Mantra“. Und Gänsehaut, als schließlich zum Finale die ersten Töne von „Lichterloh“ erklingen.
Lucio gewährt mir heute in seiner Wohnung in Halle Asyl, weshalb wir nachts noch mit der Bahn weiter müssen. Die Abfahrt gestaltet sich dabei nicht gerade leicht, denn die Tram beschließt spontan einfach mal, nicht zu erscheinen. Nach einem Späti-Bier Wartezeit nimmt uns schließlich eine Straßenbahn zum Hauptbahnhof mit, wo wir uns nun noch eine halbe Stunde lang gedulden müssen, bis der nächste Zug kommt. Als wir schließlich in eben jenem sitzen, ist uns trotzdem keine Ruhe vergönnt, da wir die gesamte Fahrt über von betrunken pöbelnden Rassisten unterhalten werden. Es ist, als wolle uns das Schicksal noch einmal vor Augen führen, wie die rechte Front in Deutschland aussieht, vor der wir nur wenige Stunden vorher durch die Band noch gewarnt wurden.
Erschöpft falle ich am Abend schließlich in ein himmlisch weiches Bett. Dabei denke ich noch einmal wehmütig an die Erlebnisse der vergangenen Tage zurück, und mir wird klar, dass ich trotz aller Strapazen, Mühen und über 1400 Kilometern zurückgelegter Strecke diese Zeit vermissen werde. Denn das Gefühl, die Lieblingsband live zu erleben, kann man nun mal nicht oft genug genießen.