Nach vielen Jahren intensiver Konzerterfahrungen und wöchentlicher Club-Besuche hatte ich in meinem Leben schon fast alles gesehen. Nur eine einzige Band stand nach wie vor auf meiner Bucket-List: Rage Against The Machine. Eine Formation, die für mich immer noch zu den beeindruckendsten Acts der 90er zählt und deren müder Abklatsch Prophets Of Rage im Vergleich schon fast eine Beleidigung für einen Zack de la Rocha ist. Entsprechend ungläubig erblickte ich Anfang des Jahres die Ankündigung des Lollapalooza Festivals, die die wiedervereinigte Band als Headliner führte. In meinem Leben habe ich noch nie so schnell ein Ticket gekauft - und das machte sich bezahlt. Nachdem ich mich am ersten Festivaltag durch eine Hölle aus Insta-Girls und 14-jährigen Miley-Cyrus-Fans gekämpft hatte (aber Miley Cyrus war der absolute Hammer!), kam es am zweiten Tag zu dem Event, das ich so lang ersehnt hatte. Vor Ort traf ich zahlreiche meiner Freunde aus ganz Deutschland, für die das Lollapalooza ähnlich wie für mich in diesem Jahr eine Pilgerstätte zur Gottheit des Crossovers geworden war. Als Rage Against The Machine - aus Konzertvideos bekannt - schnörkellos und erbarmungslos direkt loslegen, geht die eine Hälfte der Masse komplett steil, während die andere Hälfte lamentiert, man hätte doch lieber Imagine Dragons buchen sollen anstatt diese 50-jährigen Opas, die sowieso keiner kennt. Ist aber egal, denn obwohl sich Tom Morello in den letzten Jahren als der wohl stagnierendste und gleichzeitig geschmacksverwirrteste Gitarrist aller Zeiten herausgestellt hat, ist ein "Sleep Now In The Fire" nach wie vor ein unkaputtbarer Song. Die Menge liegt der Band zu Füßen, "Killing In The Name" erkennen dann sogar Teile der Imagine-Dragons-Fraktion als den Track, den sie bei besonders aggressiven Szenen als Hintergrundbeschallung schon mal im RTL-Nachmittagsprogramm gehört haben. Der Höhepunkt ist aber schließlich das Ende des Konzerts, bei dem Zack de la Rocha das Mikrofon ein letztes Mal ergreift und bekannt gibt, dass er sich zu dieser Reunion nur herabgelassen habe, um sein Soloalbum zu promoten, das nun endlich erscheint. Mit diesen Worten erscheinen Securities und führen Tom Morello ab, der in Handschellen gelegt wird und für seine Verbrechen auf "The Atlas Underground" nun endlich seine gerechte Strafe erhält. Währenddessen zeigt de la Rocha dem Publikum seinen Song "Digging For Windows" und demonstriert damit kurzerhand, wer wirklich die Hosen anhat. Ein perfekter Abschluss.
Es ist der 05.08.2020. Wir stehen mit Sack und Pack im Kofferraum im kilometerlangen Stau vor der Mautstelle vom Taubertal irgendwo vor Rothenburg. Es ist fünf (!) Uhr morgens, eigentlich hatten wir uns vorgenommen, viel früher loszufahren, weil wir die Einlasssituation am Taubertal nicht das erste Mal mitmachen, aber dann haben wir uns leider etwas verfahren. Um uns herum sind Leute ausgestiegen, öffnen die ersten Biere, einige schmeißen den Campingkocher an, es herrscht die typische Vorfreudestimmung wegen der paar Tage Auszeit vom stressigen Alltag. Im März ist so ein komisches Virus kursiert, dass für uns das Impericon Festival auf dem Gewissen hat, aber gut, dass es uns den Festivalsommer nicht genommen hat - und das Impericon wird im September nachgeholt! Nach Stunden wird der Campingplatz endlich geöffnet und wir rollen langsam, aber stetig Richtung Festival. Noch einige Stunden später stehen die Zelte, der Pavillon und irgendwer hat Bibi und Tina auf voller Lautstärke angeschmissen. Es ist Mittwoch, die ersten Konzerte fangen erst morgen an und wir genießen bis dahin das Flair auf dem entspannten Campingplatz. In der Ferne kann man die Türme von Rothenburg erkennen.
Dann ist es endlich Donnerstag und die ersten Warm-Up-Konzerte im Steinbruch stehen an. Gemeinsam mit Blond wird über Sanifair-Millionäre gesungen, wir sind passend zu Nina und Lotta voller Glitzer, ITCHY eröffnet d den ersten Moshpit des Festivals. Nach diesem Warm Up sind wir perfekt vorbereitet auf die drei Abende voller Konzerte, die noch folgen. Das „Infield“ ist leider ein paar Schritte zu Fuß weg, auch den Weg zurück zum Campingplatz muss man leider bergauf bestreiten – gibt es denn was Schlimmeres, festivalbezogenes, als nach Konzerten noch weit laufen zu müssen?!
Wir grölen zusammen mit While She Sleeps vor der "Sounds For Nature"-Bühne, stürzen uns in eine Wall Of Death nach der anderen bei Fever333, haben Herzschmerz in einem Taschenlampen-/Feuerzeugmeer Samstagabend bei AnnenMayKantereit. Das Lumpenpack musste nie einen Song schreiben, der die beschissenen Ereignisse von 2020 zusammenfasst, wozu auch, ist doch schließlich ein super Jahr! Wir kaufen viel zu teures Essen an der Ständemeile, die 7 Euro für ein Pizzastück sind es uns mehr wert, als eine halbe Stunde zurück zum Campingplatz zu laufen. Etwa die Hälfte der Show von Biffy Clyro verbringen wir in der Kloschlange (aber wenigstens sind es am Konzertgelände Hightech-Spülklos), noch sind wir nicht in Kotze gestiegen, Erfolgserlebnisse! Immer abends so ab sieben rollen die ersten Betrunkenen den Hang an der Seite vor der Bühne runter, nachdem die Donots 2019 die Taubertaler Fleischlawine angestoßen haben.
Es ist mittlerweile Sonntagabend, noch ist kein Betrunkener in unser Zelt gefallen oder hat sich reinverirrt und wir können, so ruhig das eben auf FestivalS geht, ins Bett bzw. auf die Isomatte in den Schlafsack fallen, bis der Abbau morgen ansteht. Gut, dass uns auch wirklich nichts dieses Festivalerlebnis versaut hat!
Logbucheintrag 30.07.2020: Ich befinde mich auf dem Weg in eine mir fremde Welt, die sich “Rheinland” nennt, um das dort ansässige Green Juice Festival zu besuchen. Es ist nun schon das dritte Mal, dass mich dieses ungeheuer sympathische DIY-Festival, das in Bonn mitten in einem Neubaugebiet stattfindet, den langen, beschwerlichen Weg gen Süden einschlagen lässt. Ich schaue aus dem Zugfenster, im Moment ist alles ruhig, aber vor meinem inneren Auge spielen sich die Horrorszenarien ab, die in diesen Breitengraden Jahr für Jahr den Winter trotz Klimawandel kälter und brutaler scheinen lassen als überall sonst. Karneval. Glücklicherweise ist es Sommer und die “Jecken”, wie sich die fanatischen Kultist:innen der Gegend nennen, liegen wohl noch in Essig, weil sie sich während des rituellen Kölsch-Besäufnisses etwas übernommen hatten. Mit einem Schaudern löse ich mich aus meinen Gedanken und trete den Weg vom Bahnhof Richtung Campinggelände an. Heute finden noch keine Konzerte statt, daher erstmal Zelt aufbauen und die entspannte Atmosphäre genießen. An der Zeltwiese angekommen trete ich durch den mehrere Meter hohen Torbogen aus Bierdosen und suche mir einen Zeltplatz. Im Laufe des Tage strudeln etliche meiner Freunde aus ganz Deutschland ein, die ich seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Abends würde man auf einem normalen Festival irgendwas auf dem Campingkocher brutzeln, aber der Zeltplatz vom Green Juice befindet sich an einem Industriegebiet, in dem es ein libanesisches Restaurant gibt, dass auch um 21 Uhr noch frische Falafel zubereitet.
Am nächsten Tag heißt es erstmal Frühsport. Die Duschen des Festivals befinden sich nämlich, wie könnte es anders sein, im hiesigen Freibad, und leider lässt der grummelige Bademeister Ronnie einen immer erst nach 8 Bahnen im Schwimmerbecken unter die Dusche. Bekleidet mit einer gewagt kurzen Badehose, einer Trillerpfeife in einem und einer Kippe im anderen Mundwinkel peitscht Ronnie uns durch das Wasser. Der Kater ist schnell verflogen und wir fühlen uns fit für die Konzerte. Die meiste Zeit verbringen wie gemütlich liegend auf dem Hügel des Festivalgeländes, dass im Rest des Jahres eine Parkwiese des umliegenden Wohngebietes ist. Um 8 Uhr betreten die Leoniden die Bühne, und deren Energie springt dann auch auf uns über. Nach sagenhaften 2,5 Stunden Konzert inklusive zwei neuer Songs diagnostiziert der Sanitäter bei mir Tänzerhüfte, weswegen ich mir das Headlinerkonzert der Orsons, zu deren Bühnenshow eine Hüpfburg gehört, die Meckes in Ermangelung einer Pumpe zwischen den Songs per Hand aufbläst, etwas gemäßigter geben muss. Sagenhaft. Ein gelungener Tag geht zu Ende und wir fallen todmüde in unsere Zelte.
Samstagmorgens werden wir von einer gellenden Trillerpfeife und dem beißenden Geruch von Marlboro Red geweckt. Ronnie. Wir hatten verschlafen, das bedeutete sechs Extra-Bahnen. Na toll. Zum Glück war das Lineup an diesem Samstag so gut, dass die Unannehmlichkeiten des morgens schnell verflogen waren. Nach der Show von Kind Kaputt muss ich erstmal meinen Kehlkopf, der mir vor lauter Rumgeschrei glatt aus dem Hals geflutscht war, wieder vom Boden aufsammeln und ihn wieder an seinen Platz befördern. Mia Morgan und Fil Bo Riva geben exzellentes Pausenprogramm zum besten, bevor es wieder zurück ins Pit geht. Blackout Problems beenden mit ihrer unfassbaren Show den Abend verfrüht, da die Antilopengang am frühen Abend auf der Autobahn von der Polizei erwischt wurden. Sie hatten einen gefesselten Attila Hildmann im Kofferaum, den sie nach eigenen Aussagen für Promozwecke brauchten. Als die Münchener die Nachricht bekamen, sie hätten die Bühne für sich, performen sie Kurzerhand ihr neues Album “DARK” in voller Länge. Ein krönender Abschluss des Festivals.