Als John Cage die Stille komponierte
01.07.2022 | Jakob Uhlig
Für den Stand der sogenannten Europäischen Kunstmusik in der Öffentlichkeit gab es wohl kaum ein schwierigeres Jahrhundert als das 20. Dass große Komponist:innen zu Helden der Bevölkerung werden, wie sie es früher einmal waren, ist eher Ausnahme als Regel. Mit dem Eintreffen von immer schärfer klingenden Tonsprachen – etwa in Form der atonalen Wiener Schule – scheint eine Grenze überschritten, an die sich die Menschen nicht mehr so einfach gewöhnen wie noch bei den Wagnissen früherer Epochen. Andere Musikformen beginnen den Massenmarkt immer stärker zu beherrschen. Die Geburtsstunde der Popmusik in ihrem heutigen Verständnis passiert, Jazz und Rock’n’Roll erleben ihre Blüten, Pop erfindet sich immer schneller immer wieder neu.
Andernorts kämpft man dahingegen mit mehr als einer Identitätskrise. Arnold Schönberg, einer der größten Komponisten des einsetzenden 20. Jahrhunderts, genoss zwar die Bewunderung eines Schülerkreises, der ihn geradezu vergötterte, bei seinen Konzerten hingegen sieht er sich immer wieder mit blankem Unverständnis des Publikums konfrontiert. Viele sehen in Schönbergs Tonsprache, die abseits aller gängigen harmonischen Regeln spielt, eine Unmusik, die der Hässlichkeit frönt. Der Komponist ist irgendwann so missmutig über das ausbleibende Verständnis seiner Kunst, dass er den „Verein für musikalische Privataufführungen“ gründet, dessen Mitglieder geradezu dazu erzogen werden sollen, die neue Art von Musik zu verstehen. Schönbergs Verein veranstaltet so geschlossene Konzerte, bei denen die Anwesenden einfach nur hören sollen und versuchen, das Geschehen zu begreifen. Reaktionen sind nicht gestattet, weder Buh-Rufe noch Applaus. Schönberg geht es einzig um das Lernen. Lange hält die Idee indes nicht durch, nach nur drei Jahren muss der Verein aufgrund von Geldmangel kapitulieren.
Schönbergs Ideenwelt lebt heute nach wie vor in der Arbeit vieler Komponist:innen weiter, aber wirkliche Akzeptanz in einem Massenpublikum haben auch in der Nachfolgegeneration nur noch die wenigsten gefunden. Die großen Orchester-Komponist:innen des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr die Bachs, Mozarts oder Beethovens, über die man heute noch an den Universitäten lernt. Heute heißen sie Hans Zimmer oder Ludovico Einaudi – Menschen, deren Musik manch Zyniker sicher rückwärtsgewandt oder konservativ nennen würde, das freilich durch das Unverständnis, dass diese Musik einer völlig anderen Tradition entspringt. Obwohl man das über einen Einaudi in seinem Werdegang zum Beispiel gar nicht sagen könnte. Schließlich studierte er noch bei Luciano Berio, einem der Pioniere der elektronischen Musik und der vielleicht einflussreichste italienische Avantgarde-Komponist seiner Zeit. Entsprechend klingen auch die heute kaum noch auffindbaren Kompositionen Einaudis völlig anders als das, was man heute von ihm kennt. Dass er aber gerade mit einer Art des Musikmachens zum erfolgreichsten Orchesterkomponisten seiner Zeit wurde, die mit gängigen Popstrukturen liebäugelt, ist bezeichnend für die Abkapselung derjenigen, die sich weiter das fragwürdige Label „Kunstmusik“ auf die Fahne schreiben.
Die schwerwiegendste Identitätskrise geschieht Mitte des 20. Jahrhunderts aber nicht nur bei den Avantgarde-Vertreter*innen, sondern auf der ganzen Welt zusammen. Adolf Hitler kommt an die Macht und sorgt mit seiner Gefolgschaft für eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Millionen Tote sind die Folge von jahrelangem Krieg und systematischer Massenvernichtung. 1945 ist Hitler gefallen, aber die Welt liegt in Schutt und Asche und eine ganze Generation ist traumatisiert. Wie lebt man weiter, wenn man all das erlebt hat? Wie macht man es mit sich selber aus, wenn man während der Nazi-Zeit vielleicht nicht laut genug war, wenn man es einfach hingenommen hat, wenn man es vielleicht sogar gar nicht wahrhaben wollte, was hinter den Toren der Konzentrationslager geschah? Wie weiterleben mit Menschen, die in ihren Köpfen immer noch an das Dritte Reich glauben? Und schließlich auch: Wie kann Musik angemessen das ausdrücken, was in den Köpfen der Menschen zu dieser Zeit vorgeht? Ist es gar blasphemisch, sich nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs plötzlich wieder so etwas Banalem wie Kunst zu widmen? Der Philosoph Theodor Adorno sagt so schließlich einen Satz, der die Sprachlosigkeit der Welt zu dieser Zeit wie kaum ein anderer auf den Punkt bringt: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchen die Komponierenden deswegen auch, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Nichts darf mehr an die Zeit erinnern, aus der das Grauen der letzten zwölf Jahre hervorgegangen ist. In einer Komposition von Olivier Messiaen entdecken einige Studierende bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt so zum Beispiel die Möglichkeit, eine völlig neue Art von Musik zu konstruieren, bei der jeder Ton in seine Grundbestandteile zerlegt und dann anhand eines großformatigen Plans im Werk untergebracht wird. Die sogenannte „serielle Musik“ ist geboren. Sie ist sehr eng mit mathematischen Methoden verknüpft und baut erneut auf den Ideen Schönbergs, aber auch auf denen seines Schülers Anton Webern auf. Viele sehen in dieser Musik ein bloßes Kalkül und die Maximalherrschaft der Musikschreibenden, die den Interpret:innen überhaupt keine Freiheit mehr lassen. Vielleicht ist es auch gerade diese eingepferchte Ästhetik und dieses Suchen nach festen Regeln und Halt, die die Beklommenheit der Nachkriegszeit am besten widerspiegelt.
Aus den USA kam zu dieser Zeit aber einer, der für eine Musik nach dem Krieg ganz andere Ideen hatte. John Cage war in vielerlei Hinsicht der radikale Gegenentwurf zu allem, was bei den streng nach System arbeitenden Serialisten passiert. Während dort nämlich der Komponist mehr und mehr zur bestimmenden Figur wird, die jedes noch so kleine Detail schon in der Partitur festlegt, will Cage das genaue Gegenteil. Das geschieht nicht zwangsläufig als dezidierte Gegenthese zu den Gräueln der Hitlerzeit, sondern auch durch eigene Erfahrungen. Mit 18 reist Cage nach Europa und beginnt dort zu studieren, auf Mallorca entstehen seine ersten Kompositionen. An diese Werke erinnert sich der Komponist selbst mit den Worten: „Die Musik, die ich komponierte, folgte einer mathematischen Methode, an die ich mich nicht mehr erinnere. Sie kam mir selbst nicht wie Musik vor, also ließ ich sie, als ich Mallorca verließ, zurück, um mein Gepäck nicht zu beschweren.“
So gelangt Cage schließlich zu einer Art von Musik, in der der Komponist selbst immer weniger Leitlinien vorgibt, in der er im Gegenteil fast schon zur Nebensache wird. Das lässt sich durchaus als Statement gegen das lesen, was in der Nazizeit geschah, denn hier wurde Musik im Gegenteil ganz radikal danach bewertet, wer sie geschaffen hatte. Schönbergs Zwölftonmusik galt im Dritten Reich nicht zuletzt als „entartet“, weil Schönberg Jude war – selbiges gilt für den Jazz, der aus der schwarzen Kultur kam. Auf ihren musikalischen Thron platzierten die Nazis hingegen das Ideal von Richard Wagner, einen Komponisten, der unter Anderem für seine antisemitische Schrift „Das Judenthum in der Musik“ bekannt ist und in seinen Musikdramen immer wieder auf germanische Mythologien zurückgriff.
Cage fand im Laufe seines Lebens viele Möglichkeiten, die Idee einer Musik zu ermöglichen, in der Interpret:innen die Hauptrolle spielen und sogar die kreative Arbeit machen. Viele seiner Werke arbeiten mit der Macht des Zufalls und in manchen gibt der Komponist so geringe Leitlinien vor, dass die Spielenden letztendlich selbst jedes Mal ein völlig neu klingendes Stück inszenieren können. Die „Number Pieces“, die zum Beispiel auf diese Art und Weise funktionieren und die Cage gegen Ende seines Lebens geschrieben hat, wurden so sogar von Sonic Youth auf ihrem Album „Goodbye 20th-Century“ gecovert. Dass es absolut kein Widerspruch ist, die selben Werke auch mit einem Orchester zu spielen, ist bezeichnend.
1952 schließlich kommt Cage zu der Idee, an die man sich heute mit Abstand am meisten erinnert. Der Komponist veranstaltet die Uraufführung seines neuen Werks „4‘33‘‘“, ein Stück, das heute immer noch unter genau diesem Namen bekannt ist, bei dem aber eigentlich sogar der Titel von Aufführung zu Aufführung variieren soll. Benannt ist das Stück nach seiner Spieldauer, die vor jeder Performance per Zufall neu bestimmt wird. Als das Stück das erste Mal von dem Pianisten David Tudor dargeboten wurde, waren 4 Minuten und 33 Sekunden das Ergebnis, das bis heute gängigerweise immer noch bei allen weiteren Aufführungen übernommen wird. Der Skandal, den die Aufführung damals auslöste, lag aber eigentlich woanders: Cage hatte für seine viereinhalbminütige Komposition festgelegt, dass keinerlei Musik gespielt werden sollte. Tudor saß also nur vor seinem Klavier, maß die Zeit mit einer Uhr ab und schloss und öffnete zwischen den drei Sätzen den Klavierdeckel.
Das anwesende Publikum wurde darauf nicht vorbereitet und war entsprechend irritiert. Cage selbst behauptete immer, es gäbe so etwas wie Stille gar nicht. Man könnte auch in der Abwesenheit von Musik die Geräusche des Raumes hören, Menschen begannen verständlicherweise zu tuscheln, sich zu räuspern, Stühle knarrten. Die Idee, eine absolut stille Musik zu schreiben, hatte der Komponist noch nicht einmal exklusiv. Schon 1919 schrieb der Österreichisch-ungarische Komponist Erwin Schulhoff das Stück „In Futurum“, dessen Mittelsatz einzig aus Pausen besteht. Der Unterschied ist nur: Während Schulhoff sein Werk eher als Scherz gemeint hatte, war es Cage mit „4‘33‘‘“ absolut ernst.
Cages Komposition wirft bis heute eine ganze Menge Fragen auf. Ist das überhaupt Musik, wenn die ganze Zeit niemand spielt? Ist es überhaupt Kunst, wenn weder zur Ausführung noch zur Komposition irgendwelche erlernten Fähigkeiten notwendig sind? Kann man sich Stille überhaupt urheberrechtlich schützen lassen? Und vor allem: Warum macht jemand so etwas? Auch wenn Cage sich nie in diesem Sinne zu seiner Komposition geäußert hatte, so kann „4‘33‘‘“ doch für Vieles als Zeichen gedeutet werden, was nach dem Zweiten Weltkrieg in den Menschen vorging. Cage traute sich, alles zu hinterfragen und so gut wie jede nur erdenkliche Struktur, die mit Musik zusammenhing, zu hinterfragen. In seinem Werk drückt sich die Musik einer Zeit aus, die so sehr nach Antworten rang, das alles Lösung möglich erschien, das nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun hatte – ähnlich wie in den „White Paintings“ von Robert Rauschenberg, die nur ein Jahr vor der Uraufführung von „4‘33‘‘“ erstmals das Licht der Öffentlichkeit erblickt hatten. Kunst, in der man nichts tut – vielleicht drückt sich in der Musik (?) von Cage sogar die Sprachlosigkeit aus, die die Welt auch sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch empfand.
Die bemerkenswerten Reaktionen auf „4‘33‘‘“ bleiben jedenfalls bis heute nicht aus. Ob in Belustigung, Verwirrung oder tiefster Bewunderung – auch die Album-der-Woche-Redaktion hatte diesen merkwürdigen Gefühlsmix schon durchlebt. Und auch wenn John Cage seit mittlerweile 30 Jahren tot ist, seine Kunst lebt so immer noch weiter – insbesondere in einem Werk mit extralanger Spieldauer, bei dem wir vor einiger Zeit selbst mal zu Gast sein durften.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.