Inspiration durch Isolation — der musikalische Mikrokosmos Westberlin
17.11.2020 | Kai Weingärtner
Wenn Arten über Generationen hinweg auf Inseln isoliert werden, kann das dazu führen, dass die Individuen dieser Art wahlweise extrem an Körpergröße zu- oder abnehmen. In der Biologie spricht man vom Inselgigantismus beziehungsweise der Inselverzwergung. So gab es auf Sizilien beispielsweise Zwergelefanten mit einer Schulterhöhe von gerade mal 90 Zentimetern. Die Isolation von ihrer Außenwelt befreit die Arten gewissermaßen vom evolutionären Zwang des Festlandes, wodurch ihre Entwicklung einen anderen Weg einschlug als die ihrer Artgenossen. Ein ähnliches Beispiel für die Auswirkungen geographischer Isolation ist das kleine südafrikanische Land Lesotho. Lesotho ist vollständig von Südafrika eingeschlossen, ohne Verbindung zum Meer oder Grenzen zu anderen Nachbarstaaten. Damit ist das kleine Land eines von dreien seiner Art, nur San Marino und der Vatikan sind ebenfalls in einem einzigen Land eingeschlossen. Lesotho hat seit Jahrzehnten mit dem Einfluss Chinas und der wirtschaftlichen Gier der Konzerne zu kämpfen. Zwangsumsiedlungen sind keine Seltenheit, einheimische Geschäfte haben Probleme zu überleben. Aus dieser misslichen Lage, die zu einem Teil auch der geographischen Isolation des Landes zuzuschreiben ist, hat sich in Lesotho eine florierende Kinokultur entwickelt. Filmvorführungen haben dort Eventcharakter, ähnlich wie hierzulande das Public Viewing bei sportlichen Großveranstaltungen. Und auch die Filme selbst, die aus Lesotho stammen, sind anders als alles, was hierzulande den Sprung auf die Leinwand schafft. Trotz oder gerade wegen seiner abgekapselten Lage entwickelte Lesotho eine ganz eigene, einzigartige Kulturform.
Warum dieses ganze Vorkeplänkel? Nun, die Lage Westberlins in der DDR war der der Inselarten und Lesothos nicht unähnlich. Westberlin war ja gewissermaßen eine politische Insel im roten Meer des Sozialismus. Auch hier konnten Künstler*innen fern vom Einfluss westlicher Kulturkolleg*innen Inspiration finden. West-Berlin wird von der BRD nach dem zweiten Weltkrieg zwar offiziell als Bundesland bezeichnet, allerdings gelten hier einige besondere Regelungen, die die eingemauerte Stadt zu einem Mekka für junge Alternative und Kulturschaffende machte. Zum einen wurde der Berliner Senat stark bezuschusst, weshalb sich die Stadt relativ niedrige Mieten und ein breit gefächertes Kulturangebot erlauben konnte, das in jeder anderen Großstadt der BRD dem wirtschaftlichen Fortschritt hätte weichen müssen. Viele junge Leute, die nach West-Berlin kamen, flohen ebenfalls vor dem Wehrdienst, denn den gibt’s dort schlicht nicht. Da die BRD West-Berlin zur entmilitarisierten Zone erklärte, gab es dort keine Bundeswehr und somit auch keine Wehrpflicht. Aus diesem Nährboden entwickelte sich eine Stadt der Freidenker*innen und schrägen Vögel, die ihre Anziehungskraft auf ganz Westdeutschland und bis nach Europa und über den Atlantik ausstrahlte.
Bowie und Berlin — Eine Liebesgeschichte in 3 Akten
Als David Bowie 1976 nach Berlin kam, war er musikalisch wie körperlich am Ende seiner Kräfte angelangt. Er entschied sich bewusst für eine Rückkehr nach Europa, nachdem er zuvor jahrelang in LA gelebt hatte. In seiner Persona des “Thin White Duke” begab sich Bowie in eine Abwärtsspirale aus Kokain, okkulten Riten und faschistischer Ideologie. Rückblickend gab er zwar vor, die Äußerungen des Dukes seien Performance-Kunst gewesen, während dieser Zeit wusste allerdings niemand so genau, wo David Bowie aufhörte und wo der Duke begann. '76 zog der Musiker schließlich die Reißleine und ging zurück nach Europa, ironischerweise nach Westberlin, in die “Hauptstadt des Heroins”, wie Bowie später selbst sagte. Er machte dort zunächst einen kalten Entzug, um von den harten Drogen — und damit vom “Thin White Duke” — loszukommen. Eine Musiklegende wie David Bowie konnte natürlich nur schwierig WG-Castings veranstalten, deshalb wohnte er während seiner Zeit in Berlin häufig mit anderen Musiker*innen zusammen, wie Edgar Froese, Gründungsmitglied der Krautrockpioniere Tangerine Dream. Er teilte sich außerdem zwischen 1977 und 1979 eine 7-Zimmer-Wohnung mit niemand geringerem als Iggy Pop, der sich ebenfalls im Selbstfindungsexil in Westberlin befand. Aus einer Wohngemeinschaft wurde eine künstlerische Zusammenarbeit. Bowie schrieb einen Großteil der Musik für die ersten beiden Soloalben von Iggy Pop, “Idiot” und “Lust For Life”. Er tourte außerdem in dieser Zeit als Keyboarder von Iggy Pop.
Bowies eigenes musikalisches Schaffen zu dieser Zeit beläuft sich auf ganze drei Alben, die oftmals als die “Berliner Trilogie” zusammengefasst werden. 1977 erscheint “Low”, Bowies elftes Studioalbum. Aufgenommen wurde es in den Hansa Studios in Kreuzberg. Das Gebäude stand damals nur knapp 200 Meter von der Berliner Mauer entfernt, wenn Bowie also singt: I remember standing by the wall, meint er wohl nicht irgendeine, sondern genau diese Mauer. Für “Low” ließ sich Bowie von der in den Siebzigern aufkommenden Krautrockszene inspirieren, die sich in den Musikclubs Westberlins großer Beliebtheit erfreute. Neben Tangerine Dream zählten auch Kraftwerk und Neu! zu den Favoriten des Musikers. Es waren also genau die Bands, die sich so stark wie möglich vom Lokalstempel der “deutschen” Musik abzuheben versuchten, deren Eindrücke heute in David Bowies Songs als Markenzeichen für genau diesen Stempel stehen. Berlin bescherte Bowie im selben Jahr einen seiner bis heute größten Hits.
Gerade einmal neun Monate nach “Low” erscheint sein zwölftes Album “”Heroes”” (Ja, das mit den Anführungszeichen muss tatsächlich so). Während der Musiker Teile von “Low” noch in den USA einspielte, entstand “”Heroes”” als einziges Album der Berlin-Trilogie auch vollständig in Berlin. Dieser lokale Bezug trieft auch nur so aus dem dem Album heraus. Bowie zollte dem Krautrock diesmal nicht nur musikalisch Tribut, auch die Songtitel selbst sind ein Hutkrempentippen in Richtung der Künstler*innen. “V-2 Schneider” bezieht sich auf den Kraftwerk-Mitgründer Florian Schneider, der Albumtitel selbst ist eine Anspielung auf den Song “Hero” von Neu!. Aber die Berlinbezüge hören da ja noch lange nicht auf. Die Lyrics zum Titeltrack “”Heroes”” handeln von einer Liebesgeschichte an der Berliner Mauer, und avancierte auch deshalb zu einer Art inoffizieller Berlin-Hymne. Auch bildlich beeinflusst die Geschichte der Stadt das Album. Bowie war ein großer Liebhaber des deutschen Expressionismus der 1920er-Jahre und ließ sich für das Coverartwork zu “”Heroes”” von einem Selbstporträt des Malers Erich Heckel inspirieren, das er in einem Berliner Museum gesehen hatte.
Zwei Jahre nach “”Heroes”” komplettiert Bowie 1979 mit “Lodger” die Berlin-Trilogie, auch wenn es zu einem großen Teil in der Schweiz und eben nicht in Berlin aufgenommen wurde. Die Zusammenarbeit mit Produzent Brian Eno blieb allerdings bestehen. Auch musikalisch schwindet der Berlinbezug nach Bowies Abreise, die Krautrockeinflüsse wichen Elementen afrikanischer Stammesmusik, die der Sänger von einer Reise nach Kenia mitbrachte. Bowie baut aber auch Einflüsse aus anderen Kulturkreisen ein, einige Songs bringen erstmals Klangexperimente an den Tisch, die man sonst eher aus dem mittleren Osten oder Asien kannte. Hin und wieder scheint aber auch die Krautrockliebe des Künstlers noch durch, so zum Beispiel auf dem Song “Red Sails”. Mit “Lodger” sagte Bowie gewissermaßen “Tschüss Berlin, schön war’s. Hallo Welt, ich bin wieder da!”
Das SO36 und der Berliner Underground
“Das SO36 war insofern wichtig, als dass plötzlich Sänger war, wer 'ne Kartoffel von nem Mikrofon unterscheiden konnte.” So beschrieb einer der Protagonisten einer 1984 erschienen Dokumentation (zu finden auf YouTube) den Kreuzberger Kultclub SO36. Erst ein Biergarten, dann ein Kino, dann ein Supermarkt und schließlich eine Konzertvenue, so lief die Geschichte des SO36 in der Oranienstraße. Über die Jahre hinweg etablierte sich der Club als Zentrum der Berliner Punk- und New Wave Szene, trotz beschwerden der Anwohner, Probleme mit Krawallen und der ansässigen Anarcho-Punks, die die Eintrittspreise des SO36 als zu kommerziell abtaten. Diese Konsumkritik gipfelte in einem Raubüberfall, bei dem ein “Kommando gegen Konsumterror” die Kasse des Ladens stahl und 2500 Mark erbeutete, von denen, wie einer der Täter später stolz zu Protokoll gab, sich seine Band eine neue Anlage kaufen konnte. Das SO36 trug also auch unfreiwillig zur Talentförderung bei.
Der Veranstaltungsbetrieb im SO36 lief in den 70er- und 80er-Jahren alles andere als reibungslos ab. Das lag wohl zum Teil auch daran, dass wegen der obskuren Acts, die dort auftraten, das Budget für die Veranstalter*innen kaum ausreichte, um die laufenden Kosten des Clubs zu decken. Besucher*innen von damals berichten, dass man nie hören konnte ob eine Band jetzt gut oder schlecht war, einfach weil der Sound so grauenhaft gewesen sein muss, dass sowieso alles in einem riesigen Krachmatsch unterging. Trotz — oder vielleicht gerade wegen — dieser klangtechnischen Wehwehchen wurde das SO36 zum Sprungbrett für viele Bands, die von dort den Aufstieg zu deutschlandweitem und internationalen Ruhm schafften. So kann sich die Chronik des Clubs durchaus sehen lassen: Abwärts, Einstürzende Neubauen und sogar KISS traten hier in den 70ern auf und begeisterten eine pogende Menge stockbesoffener Punk- und Avantgardefans. Aber natürlich war ein Auftritt im SO36 nicht gleichbedeutend mit einem Welterfolg, zahlreiche Berliner Undergroundbands blieben auch genau das. So endete beispielsweise das eigentlich vielversprechende Quartett Soilent Grün trotz SO36-Dauergaststatus nach ihrer Umbenennung und Besetzungswechsel 1982 in der Obskurität. Schade.
"Ich freu mich auch schon tierisch auf die Scene - West Berlin"
Das wohl erfolgreichste Exportprodukt aus Berlin (aaauuuuus Berliiin!) ist zweifelsohne die Band Die Ärzte. “Westerland” ist über die Jahre zu einem deutschlandweiten Partyphänomen geworden, das jedes Jahr aufs neue sowohl der frischgebackene Abiturient als auch die etwas eingestaubte Schuldirektorin nach drei vier Aperol Spritz auf dem Abiball-Festzelt lauthals und schief (und leider völlig unironisch) mitgröhlen können. Die Lyrics zu “Deine Schuld” fanden sogar ihren Weg auf die Berliner Abiturzeugnisse des letzten Jahres. Dass Die Ärzte aus Berlin (aaauuuuus Berliiin!) kommen, daraus machen sie selbst, ganz offensichtlich, kein Geheimnis.
Die obenstehende Überschrift stammt aus dem Die Ärzte Song “West-Berlin”, in dem die Band sich über die Wehrdienstflüchtenden Neu-Westberliner*innen lustig macht. Wir kommen aus dem Schwabenland / Und wollen nicht zum Bund / Der Dienst an der Waffe ist einfach nicht gesund / Wir wollen doch in Ruhe Soziologie studieren. Die bissige Ironie und teils albernen Texte sind bis heute Markenzeichen und Teil des anhaltenden Erfolgs der Die Ärzte, in den frühen 80ern stand ihre selbstreflektierte und spaßige Art allerdings im krassen Gegensatz zur Westberliner Anarcho-Punk- und Hausbesetzerszene. Die waren immer Bierernst und fanden es gar nicht witzig, dass da auf einmal drei solche Spaßvögel sich jetzt “Punk” nennen (was die Band übrigens nie wirklich tat) und damit auch noch (einigermaßen) erfolgreich waren. Abgesehen vom bereits zitierten “West-Berlin” sahen Die Ärzte in ihrer Diskographie, im Gegensatz zu vielen anderen Acts aus Berlin (aaauuuuus Berliiin!), zumeist davon ab, ihre Heimat exzessiv mit liedgewordenen Hommagen zu bauchpinseln. Und trotz dieser nicht vorhandenen Thematisierung (zumindest in den Songtexten): Die Ärzte hätte es so nur in Westberlin geben können, nur hier in dieser sich physisch manifestierten Filterblase konnte sich die Band isoliert vom Rest der deutschen Musiklandschaft, aber eben auch isoliert vom Rest der Punkszene entwickeln.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.