Zufälle
Eigentlich ist es purer Zufall, dass ich an diesem Wochenende nach Braunschweig fahren kann. Einer meiner Freunde wollte eigentlich mit seiner Frau zu Kettcar fahren, aber Zufälle verändern Wege. Und so kam es, dass die Frau nicht mitfahren konnte und mein Freund mich fragte. Wir waren beide schon vor Jahren gemeinsam im Bremer Schlachthof bei Kettcar. Damals nahm ich ihn mit, weil meine Frau kurzfristig nicht mitkonnte. – Kreise schließen sich.
Nach kurzweiliger Autofahrt – mir war gar nicht bewusst, dass Braunschweig nur etwas mehr als anderthalb Autostunden von meinem Wohnort entfernt liegt – kommen wir mit genügend Zeit im Gepäck dort an.
Die Location
Der Applaus Garten in Braunschweig befindet sich auf dem Gelände der Oettinger Brauerei, ehemals Wolters, daher der Name. Umgeben von hohen Fabrikgebäuden hat sich ein Kleinod etabliert, welches bekannten und unbekannten Acts eine Bühne bietet. Durch den umgebenden Baumbewuchs entsteht zu keiner Minute ein industrielles Feeling. Eher hat es den Anschein, sich mitten auf einer Waldlichtung zu befinden. Das Gelände bietet 2000 Gästen Platz, zu Kettcar finden sich deutlich weniger ein (ich verstehe nur nicht warum). Mir sagt das aber eher zu, da ich es liebe, nah dran UND gleichzeitig mit Platz vor der Bühne zu stehen. Meine ersten Eindrücke verarbeite ich mit einem frischen Bier vom Fass und Kartoffelstäbchen mit Aioli-Minz-Soße. Die Sonne scheint, leichter Wind, 24 Grad – alles bereit für einen hoffentlich perfekten Konzertabend.
Sofort fällt mir auch die große Zufriedenheit und Entspanntheit bei den anderen Menschen auf. Jede Altersgruppe ist vertreten. Die ersten Gespräche mit anderen entwickeln sich und sofort fühle ich mit wie zu Hause.
Nachdem der Merch-Stand gecheckt ist und ich mir versichern lasse, dass nach dem Konzert noch genügend Shirts und Vinyl da sein würden, suchen wir uns mit Nachschub an Getränken unseren Platz vor der Bühne.
Jule
Jule ist eine junge Singer-/Songwriterin, die im Juli ihre erste EP „Im Regio weinen“ herausgebracht hat. Ich habe vorher nicht hineingehört, sodass ich total überrascht bin einen liebenswürdig aufgeregten Menschen anzutreffen, allein auf der Bühne und um die Schulter einzig eine E-Gitarre. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine(n) Künstler:in nur mit elektrischer Gitarre (außer bei Soli) erlebt zu haben, aber ihr verzerrter Sound und die kraftvolle, aber manchmal an Resignation erinnernde Stimme sowie ihre tiefen Texte haben mich gepackt. Und diese Texte handeln von Verletzlichkeit, Einsamkeit, Depressionen, Abhängigkeiten, Traurigkeit und den Schwierigkeiten in unserer Welt als Mensch sein Leben nicht „meistern“ zu können.
Schüchtern erzählt sie, dass sie kaum Auftritte vor so vielen Menschen hatte. Aber wer ihr auf Instagram folgt (wie geil der Name: Ubahnstreik), erfährt, dass als Support von Madsen und Frank Turner da noch Großes auf sie zukommen wird. Ich wünsche es ihr von ganzem Herzen!
Leider ist ihr Auftritt viel zu schnell zu Ende, ich hätte gerne noch mehr gehört. Aber da war ja was – ihre EP als Vinyl liegt am Merch!
Kettcar
Ich glaube, über Kettcar als Band muss ich hier nicht viel erzählen. Gerade ihr letztes Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ führte dazu, dass sie ihren Platz im deutschsprachigen Indie-Rock-Olymp gefestigt haben.
Da Kettcar zu meinen absoluten Lieblingsbands gehören, musikalisch wie textlich, bekomme ich vor lauter Freude Gänsehaut, als die fünf Musiker die Bühne betreten. Haben während des Auftrittes von Jule noch vereinzelt Gespräche stattgefunden, verstummen diese bei den ersten Tönen von „Auch für mich 6. Stunde“ und es macht sich kollektive Glückseligkeit auf den Gesichtern der Menschen breit. Auch ich grinse breit und singe lauthals mit. Die Zwischenansagen sind nicht gekennzeichnet von Parolen oder Aufforderungen zum Mitsingen, sondern Markus Wiebusch und Reimer Bustorff erzählen von ihren Braunschweig-Erfahrungen (fünftes Konzert), sticheln gegen Hannover oder leiten mal ernst, mal humorvoll in ihre Songs ein. Es folgen Lieder von allen Alben, wobei „Du und wieviel von deinen Freunden“, „Gute Laune ungerecht verteilt“ und „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ etwas mehr im Fokus stehen. Der Sound im Applaus Garten ist hervorragend abgemischt, der Gesang ist klar, kein Instrument erscheint unterzugehen.
Während des Konzertes habe ich so viele Gänsehautmomente, sei es bei „Rettung“, „München“ oder dem herausragenden „Sommer ‘89“. Die Menschen vor der Bühne singen alle Lieder mit, kaum jemand, der nicht irgendwie berührt ist von der Musik.
Mein persönliches Highlight ist Marcus Wiebuschs Solostück „Der Tag wird kommen“. Durch diesen Song bin ich erst auf Wiebusch und Kettcar aufmerksam geworden. So gesehen ist dies eine späte Liebe, die sich bei mir aber schnell und intensiv entwickelte.
Viel zu schnell ist das Konzert nach knapp 105 Minuten zu Ende. Kann nicht sein, habe ich nicht erst vor wenigen Minuten „Money Left To Burn“ gebrüllt, das irgendwann in der Mitte des Sets gespielt wurde? Aber beseelt, mit einer inneren Zufriedenheit und dem Gefühl den perfekten Konzertabend erwischt zu haben, schlendern wir Richtung Merch.
Danach
Am Merch kann ich mich nicht entscheiden: Ein Kettcar-Shirt oder doch die EP von Jule? Am Ende wird es beides. Ein letztes Bier und dann machen wir uns auf den Weg zum Auto. Beim letzten Umblicken Richtung Konzertgelände nehme ich mir vor, dass dies nicht mein letzter Besuch im Applaus Garten in Braunschweig gewesen war.
Nach letzten Gesprächen mit ebenso begeisterten Besuchern steigen wir ins Auto und machen uns auf den Heimweg. Viel gesprochen wird nicht mehr, nicht weil wir müde sind, sondern jeder von uns will dieses Gefühl, welches sich heute Abend aufgebaut hat, noch so lange wie möglich genießen.