Cave Peractorum I: Joy Division und “Still”
17.11.2024 | Frank Diedrichs
„Still“ von Joy Division war die erste LP, die ich mir gekauft habe. Ich würde mich gerne an das Jahr erinnern, mag 1988 gewesen sein. Aber sorry… fällt mir nicht mehr ein. Ist dann doch ein bisschen her. Was ich aber noch nachempfinden kann, ist die Aufregung, „Georgie’s“ mit dem Ziel zu betreten, sich Musik zu kaufen. „Georgie’s“ war die Institution in meiner Heimatstadt, wenn es um alternative Musik ging. Zu Beginn noch wichtiger war aber die angeschlossene Boutique, in der es die allerschönsten karierten Levi’s-Hemden ever gab. Ich schweife ab… Ich war also dort, um mir eine Schallplatte zu kaufen. Zum ersten Mal! Nur welche? Keine Ahnung, irgendwie schien mir das nicht wichtig zu sein. Beim Stöbern in den LP-Fächern war ich mit Sicherheit von Bandnamen, Covern überfordert, musste zusätzlich auf den Preis achten, da ich mit 15/16 Jahren nicht viel Geld hatte. Ich stieß auf „Still“ von Joy Division. Die Band kannte ich vom Hörensagen, von Schwärmereien anderer, die Tragik des Lebens Ian Curtis‘ geisterte als pubertäre Faszination umher. Selber hatte ich aber noch nie Musik von ihnen gehört. Es war aber letztlich das Cover, welches mich anzog.
Das Cover faszinierte mich damals wie heute. Es war schlicht, nur der Name der Band, das Labelzeichen, kein Albumtitel. Auch die Rückseite und die Innenseite des Gatefold Sleeve waren so schlicht, dass die Titel oder Credits kaum auffielen. Ich legte die Platte als aussichtsreichen Kandidaten zur Seite, aber das weitere Stöbern fühlte sich nicht richtig an. Auch heute geht mir das häufig beim Plattenkauf noch genauso. Es ist, als ob ich nicht die LP finde, sondern sie mich auserwählt und es gotteslästerlich wäre, es zu wagen, etwas anderes auszuwählen. Sie sollte es also sein, 25,90 DM auf den Tresen gelegt, eintüten lassen und mit Stolz von hier bis Meppen nach Hause gefahren.
Einen eigenen Plattenspieler hatte ich gar nicht (warum kaufte ich mir dann eine LP?), einzig mein Vater besaß eine Kompaktanlage, auf der ich die Musik hören konnte. Es war eine Grundig RPC 300. Leider existiert sie nicht mehr. So musste ich im elterlichen Wohnzimmer sitzen, um dieses Album zu hören. Meine Eltern haben den Plattenspieler eigentlich nie benutzt, somit war mir auch nicht klar, warum sie einen hatten. Aber für mich war diese Anschaffung in diesem Moment ein glücklicher Zufall.
Unter Aufsicht meines Vaters, eher skeptisch beäugend als unterstützend, legte ich vor der Anlage hockend die Platte auf den Teller und setzte die Nadel auf. Knistern und Knacken kam aus den Boxen. Und dann begann „Exercise One“ als schrilles, verzerrtes Monster unser Wohnzimmer zu durchfluten. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie meine Eltern reagiert haben. Aber ich war gefangen. Der Sound so unfassbar neu für mich, die Stimme Ian Curtis‘ kam mir so unendlich traurig vor. Und dann das peitschende Intro von „Ice Age“ und die Basslines von Bernard Sumner. Ich glaube, wir nannten das damals "geil"! Ich hörte mich durch das Album, zuerst über die Boxen, dann über die Kopfhörer. War wohl ein bisschen laut. Ich verstand nicht viel von den Texten, das bisschen Schulenglisch, welches ich beherrschte, reichte nicht aus, um die Texte in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Das war aber auch nicht nötig. Der Sound und der Gesang reichten aus, um mir eine ganz eigene Interpretation zu erschaffen. Ich glaubte, nachzuempfinden, welche Emotionen Ian Curtis zu diesem Gesang trieben. Bis heute sind meine Lieblingstracks die gleichen geblieben: „“Ice Age“, „Ceremony“, „Walked In Line“ aber auch „Transmission“. „Isolation“ empfand ich als wie für mich geschrieben. Mitten in der Pubertät, umgehen müssen mit ersten Enttäuschungen in Bezug auf Liebe oder Eltern.
Irgendwann lief das Album nicht mehr zu Hause. Die Anlage meiner Eltern, die inzwischen in meinem Zimmer stand, ging kaputt und wurde in den Keller verfrachtet. Ich besaß erneut keinen eigenen Plattenspieler, also verstaubte die inzwischen auf vier LP (Sisters Of Mery, Nirvana und R.E.M. kamen hinzu) und diverse Singles (beispielsweise nur durch persönliche Umstände erklärbare Käufe wie „Bow Down Mister“ von Jesus Loves You aka Boy George) angewachsene Sammlung im Regal. Klar, meine damalige Freundin, jetzt Frau, hatte eine Anlage mit Plattenspieler, aber dort habe ich irgendwie nie meine Platten aufgelegt. Aber bei jedem Umzug achtete ich sorgsam darauf, sie gut zu verpacken, damit ihnen nichts geschieht. Es begann auch mein persönliches Zeitalter der CD. Die Idee, sich einen Plattenspieler zu kaufen, kam nie in Betracht. Zu sehr habe ich mir von der Industrie vormachen lassen, dass CD die Zukunft sei.
Erst als ich mit meiner Frau 2003 in unseren jetzigen Wohnort zog, begann ich mich ganz langsam wieder für Schallplatten zu interessieren. Und als ich mit weit über 30 Jahren endlich meinen ersten, eigenen Plattenspieler hatte, war „Still“ erneut die erste Platte, die ich auflegte. Sie hatte nichts von ihrer Magie verloren. Inzwischen wusste ich etwas mehr über Joy Division und Ian Curtis, begann mich auch literarisch mit Musik im Allgemeinen und der Band im Speziellen zu beschäftigen. Der Film „Control“ von Anton Corbijn feuerte das Interesse noch weiter an.
Wenn ich in der Gegenwart, auch während ich diesen Text verfasse, das Album höre, schwingt natürlich immer eine gehörige Portion Nostalgie mit, nicht an Zeiten, die besser waren, sondern an Zeiten, die anders waren. Aber die Musik, der Sound und der Gesang berühren mich immer noch, aber gerade die durch die intensive Auseinandersetzung mit Band und Sänger sind es nicht mehr die pubertären Emotionen. Vielmehr berührt die Musik des Albums mein erwachsenes Alter Ego mit all seinen mentalen Eigenheiten und verschafft mir die Möglichkeit, mich mit meinem eigenen Hadern auseinanderzusetzen. Das schaffen nicht alle Alben, die mir in der Vergangenheit viel bedeutet haben. Aber dazu vielleicht an anderer Stelle mehr…
Trivia zum Album
Gerne möchte ich an dieser Stelle einige Fakten zum Album nennen. Es erschien als Doppelalbum im Oktober 1980 und enthält auf der zweiten LP den Live-Mitschnitt des allerletzten Joy Divisions-Konzert vom 02. Mai 1980 in der Birmingham University. 16 Tage später kam es zum Suizid Ian Curtis‘. Das Album erschien unter FACT 40 beim Factory Label aus Manchester. In den deutschen Charts stand es nur in einer Woche: Am 18. Februar 2022 erreichte es Platz 56.
Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.