Cave Peractorum II: Die Toten Hosen und „Auf dem Kreuzzug ins Glück – 125 Jahre die Toten Hosen“
19.12.2024 | Frank Diedrichs
Das Jahr 1990 war auch für mich als Jugendlicher ein wichtiges Jahr. Ich beendete die Realschule und folgte meiner bewussten Entscheidung, auf ein berufliches Gymnasium zu gehen. Das städtische Gymnasium war schließlich voller Spießer, Streber und Kinder reicher Eltern. So meine damalige Vorstellung. Wahrscheinlich hatte ich einfach nur Schiss, dass die Anforderungen zu hoch seien. Die Abschlussfahrt ging nach Berlin, wo wir als dekadente Wessis den Osten der Stadt erkundeten. Als Schulsprecher hielt ich meine erste Rede, besoffen einen Tag vorher im Stadtpark geschrieben. Und ich war zum ersten Mal mit einem Mädchen zusammen. Dieses weltverändernde Ereignis wird beim Album der Toten Hosen noch eine Rolle spielen.
Musikalisch bot das Jahr einiges an Highlights, die mich aber damals nicht erreichten: Green Day brachten ihr Debüt heraus oder auch Bad Religion, die mit „Against The Grain“ einen Klassiker des Punks veröffentlichten. Ich stand eher so auf Fun Punk – Die Abstürzenden Brieftauben liefen in Dauerschleife.
Mit dem Album „125 Jahre Die Toten Hosen“ kam ich zum ersten Mal während der WM 1990 in Berührung. „Azzurro“ war der WM-Song, das dazugehörige Video lief in Heavy Rotation auf MTV und VIVA. Das dies ein erster Schritt der Hosen Richtung Mainstream sein könnte, war kein Gedanke wert.
Mein damals bester Freund B. hatte das Album vor mir auf CD. Allein das Cover war der Wahnsinn. Reminiszenzen an Schlachtengemälde des napoleonischen Russlandfeldzuges, Jimi Hendrix, Sid Vicious und Elvis Presley zurückgelassen und die blutverschmierte Brille John Lennons erheben das Gemälde zur Ikonografie. Von Beginn an war das Album eine Offenbarung. Der Opener „Alles wird gut“ fegte über uns hinweg und „Glückspiraten“ katapultierte mich gedanklich an den eigenen Küchentisch inmitten meiner pubertären Auseinandersetzungen mit meinen Eltern. „Fünf vor Zwölf“ war für mich ein Türöffner in Sachen Antifaschismus. Der aufkeimende Neo-Nationalismus in all seinen widerwärtigen Ausprägungen machte auch vor unserer Provinz nicht halt. In meiner Fußballmannschaft spielten auch Jungen, deren Eltern aus der Türkei kamen und nun hier integriert lebten. Bei einem Auswärtsspiel in einer dörflichen Idylle wurden diese Jungen immer wieder angepöbelt und rassistisch beleidigt. Der Schiedsrichter war hilflos, wir irgendwie auch. Als dann das K-Wort fiel, brannten mir die Sicherungen durch. Ich verließ als Torwart mit dem Ball in der Hand den Strafraum, ging auf den lautesten Schreihals zu und zimmerte ihm den Ball aus fünf Metern in die Fresse. Abschläge konnte ich schon immer gut. Ich glaube, der Schiedsrichter war dankbar für meine Aktion, da ich nur mit einer fünf Minuten Zeitstrafe vom Platz gestellt wurde. Puh, irgendwie ändern sich die Menschen in diesem Land nicht wirklich.
Zurück zum Album… Viele Songs auf dem Album wurden für mich in dieser Phase irgendwie bedeutend. „Streichholzmann“ verherrlichte durch eine Ode an die Pyromanie etwas Verbotenes, Verwerfliches. „Schönen Gruß, auf Wiederseh’n“ avancierte sofort zum Abschluss einer jeden Party, auch wenn wir niemals ein Zuhause verwüstet haben. „Die Opel-Gang Teil II“ und „Achterbahn“ bildeten den Soundtrack fürs Wochenende. Nicht alles an diesem Album gefiel, beispielsweise die Versionen von „Eisgekühlter Bommerlunder“ („Hip Hop Bommi Bop“) oder der High-Noon-Mix von „Liebesspieler“. Fragwürdig finde ich aus heutiger Sicht die Songs „First Time“ (mit Honest John Plain von The Boys) und „Keine Chance für die Liebe“, meinem Verständnis nach alles andere als FLINTA-freundlich.
Ein absolutes Highlight ist „Willi – ein Verlierer (Drama in drei Akten)“ mit Gerhard Polt und den Biermösl Blasn. Ich hatte wahrscheinlich schon 1990 eine soziale Ader für „Verlierer“, für Menschen, die benachteiligt, missverstanden, anders oder ungeliebt waren. Auch in meinem jetzigen Beruf, ich bin Lehrer, liegen mir diese jungen Menschen besonders am Herzen. Willi war mir vom ersten Hören an sympathisch. Ich kann mich noch genau erinnern, wie wütend ich auf seine Schwester war („Willi muss ins Heim“).
Im Januar 1991 kam es zu einer überraschenden Wendung im Verhältnis zu diesem Album. Meine Beziehung zu meiner ersten Freundin zerbrach, ausgerechnet einer meiner besten Freunde war involviert. Zum ersten Mal in meinem Leben fiel ich ins Bodenlose und der Soundtrack dazu kam von „125 Jahre Die Toten Hosen – Auf dem Kreuzzug ins Glück“. Auch wenn ich im Nachhinein weiß, dass „All die ganzen Jahre“ sich eher auf eine Freundschaft, nicht auf eine Beziehung bezieht, spiegelt dieser Song dennoch meine Sehnsucht, meinen Schmerz eins zu eins wider. Wenn ich mit 33 Jahren Abstand in mein Tagebuch schaue, dann muss dieser Schmerz gewaltig und schwer gewesen sein. Und dass „Sein oder Nichtsein“ , ein Song über einen Suizidversuch des Lyrischen Ichs, ein depressives, aber nicht immer unangenehmes Kribbeln verursachte, lässt mich heute noch durchpusten. Alle anderen Lieder spielten über Monate hinweg keine Rolle mehr. Irgendwann verloren „All die ganzen Jahre“ und „Sein oder Nichtsein“ ihre negative Energie, aber erstgenannter Song erzeugt immer noch Flashbacks (siehe auch Mein Lieblingssong von Die Toten Hosen). Mein Leben glitt in die postpubertäre Phase über, Wunden vernarbten. Die Toten Hosen brachten neue Alben heraus, mit neuen begeisternden Songs, die eine Bedeutung in meinem Leben erlangten.
Ganz verschwunden ist das Album nie. Natürlich kaufte auch mir die CD und immer wieder mal lief das Album, das nichts an Kraft verloren hatte. Mit Beginn meiner Sammelleidenschaft für Vinyl vor knapp zehn Jahren stellte sich mir die Frage, ob ich beginnen sollte, die Alben der Hosen als Vinyl zu erstehen. Es war schwer, gute gebrauchte, dennoch preisgünstige Alben zu erstehen. Die ersten Alben waren die Neuerscheinungen. Mich störte, dass diese häufig in übertriebener Aufmachung und Preisvorstellung erschienen, trotzdem machte ich bei diesem kapitalistischen Auswuchs mit. Als die ersten Ankündigungen kamen, dass alte Alben wieder aufgelegt werden würden, war meine Freude groß. Endlich „125 Jahre Die Toten Hosen – Auf dem Kreuzzug ins Glück“ als Vinyl!! Aber die Ernüchterung kam bereits mit „Opelgang“, „Damenwahl“ und „Unter falscher Flagge“. Nicht ganz preisgünstige Limited Editions mit hochwertigem Booklet und unveröffentlichten Tracks oder nie gehörten Versionen wurden veröffentlicht, wo auch ich ins Grübeln kam, ob ich das bezahlen möchte. Zweimal habe ich nachgegeben, was mich im Nachhinein ein bisschen ärgert. Dies alles führte dazu, dass ich die Songs der Toten Hosen immer noch über alles liebe, aber ihr Umgang mit Konsum, Markt, Produkt-Pushing und Kommerz mich doch hat skeptisch und distanziert werden lassen.
Mein Album „125 Jahre Die Toten Hosen – Auf dem Kreuzzug ins Glück“ habe ich aber doch noch auf Vinyl bekommen. Irgendwie hat mein Schwager die Vinyl von 1990 ergattert, wunderschön kratzig alt und mit den Tracks des „Originals“.
Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.