Cave Peractorum IV: Bruce Springsteen und "We Shall Overcome - The Seeger Sessions"
11.04.2025 | Frank Diedrichs

Bevor ich mich dem Album und meinen ganz persönlichen nostalgischen Erinnerungen hingebe, muss an dieser Stelle ein Zeitsprung in die späten 80er und frühen 90er des letzten Jahrtausends erfolgen. Mit meiner Clique entdeckten wir die Welt des Jugendzentrums Scheune und die Diskothek Roxy. Beides Locations, die viel alternative Musik spielten. Zu dieser Zeit lernte ich einen meiner besten Freunde N. kennen. Er war fast drei Jahre älter, hatte also schon viel mehr Lebenserfahrung wie der Rest von uns. Zwinker, zwinker! Ich sehe es noch vor meinem geistigen Auge, als ich zum ersten Mal sein Zimmer betrat. Mehrere Poster von einem Musiker, mit Jeans und karierten Hemden, klassischer US-amerikanischer Arbeiterlook: Bruce Springsteen. Kannte ich nicht und auch die Musik, die wir sehr häufig hören mussten, wenn wir bei N. abhingen, sagte mir überhaupt nicht zu. Das klang alles viel zu rockig und viel zu viel nach Arbeiterklasse, aus dessen Milieu ich zwar stamme, aber mit der zu dieser Zeit keine Identifikation stattfand. Belächelt habe ich meinen Freund, wenn er im Roxy zu den Liedern von Springsteen „abging“. Liebevoll aufgezogen wurde er für seine Obsession.
Nach dem Abitur und während des Studiums sahen wir uns nur noch an vereinzelten Wochenenden. Die Zukunftspläne führten uns nach Düsseldorf, Köln oder wie bei mir nach Osnabrück. Sahen wir uns, hingen wir weiterhin ab und hatten weiterhin viel Spaß am Feiern. Persönlich ließ mein Musikinteresse stark nach. Ich habe kaum Erinnerungen an die Zeit des Studiums und des Referendariats, die mit Musik verknüpft sind. Erst mit dem Umzug in meinen jetzigen Wohnort und dem Antreten meiner festen Anstellung an der hiesigen Realschule erwachte mein Interesse an Musik wieder zu neuem Leben. Nicht mehr allein auf (Fun-)Punk fokussiert, sondern breiter gefächert. Musik wurde auf CD konsumiert, sodass ich jede Möglichkeit wahrnahm, CD-Abteilungen aufzusuchen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Bei einer meiner Streifzüge entdeckte ich das Cover der CD „We Shall Overcome – The Seeger Sessions“. Pete Seeger war mir bekannt aus meiner musikalischen Entdeckung des Werkes von Bob Dylan, welches mich fesselte. Ich musste bestimmt lachen, als ich bemerkte, dass die CD ein Coveralbum von dem Bruce Springsteen ist, welchen ich immer abgelehnt habe. Die CD lag in der Schnäppchen-Ecke, kam demnach bei Deutschlands Musikliebenden nicht so gut an. Auf dem Cover sind die Musiker dieser insgesamt drei Sessions zu sehen. Gleichberechtigt nebeneinander versammelt an einem Tisch. Das Bild wirkt in seinem Sepia-ähnlichen Farbton wie in einem Westernsalon aufgenommen. Und auch der Titel „We Shall Overcome“ rief Assoziationen hervor. Ich glaube, es war während des Musikunterrichts in meiner eigenen Zeit in der Realschule, wo ich mit diesem Friedenslied in Berührung kam. Dieser Musikunterricht ist einen eigenen Beitrag wert.
Ich schweife ab.
Zuhause wurde die CD ausgepackt. Und natürlich erstmal falsch in den Player eingelegt, denn was ich nicht realisiert habe, ist der Fakt, dass die CD „doppelseitig“ bespielbar ist. Auf der anderen Seite befindet sich eine DVD-Spur, die eine Dokumentation über die Sessions und zwei Bonustracks zeigt. Als ich die Musik also zu Hause hörte, war ich völlig überrascht. Bereits beim ersten Track „Old Dan Tracker“ fiel mir die pure Spielfreude der Musiker:innen auf. Diese zieht sich durch das ganze Album, wie auch in Liedern wie „Jesse James“ oder „My Oklahoma Home“. Was hatte ich erwartet? Songs arrangiert wie die Folksongs Bob Dylans? Wahrscheinlich. Ist ja auch durchaus durch die musikalische Nähe Dylans und Seeger zu vermuten. Aber Springsteen zaubert mit seinen Sessionmusiker:innen etwas gänzlich anderes. Aus den Liner-Notes liest sich heraus, dass Springsteen vormals noch nie mit den Musiker:innen gespielt habe. Kaum zu glauben, wenn mensch sich die Tracks anhört. Die drei Ein-Tages-Sessions, die 1997, 2005 und 2006 stattfanden, wurden im Wohnzimmer Springsteens live eingespielt. Mit dem Einsatz von Banjos, Geigen, Waschbrett oder auch Akkordeon bekommt die Musik etwas Lebendiges und Ursprüngliches. Laut Booklet entstanden die Songs erst während der Sessions, vielleicht hören sie sich deswegen so organisch, wachsend an. Songs wie „Shenandoah“ und „We Shall Overcome“ werden bedächtig und mit Tiefe arrangiert, wie eine ehrfürchtige Verneigung vor dem Original, getragen von der Stimme Springsteens.

Ich weiß nicht, ob ich hier bereits begann zu verstehen, was mein Freund an Springsteen faszinierte. Für mich war dieses Album, wohlgemerkt ein Cover-Album, der Startschuss, um mich tiefer mit Bruce Springsteen und in Folge auch mit seiner E-Street-Band zu beschäftigen. Es folgte die Greatest-Hits-Compilation, einzelne Alben wurden auf CD gekauft. Und als ich meine Zuneigung zu Vinyl (wieder-)entdeckte, begann ich mir nach und nach die LP zuzulegen. Vertiefte mich in die Lyrics. Fand Gefallen an den Intentionen der Songs, an den Arrangements, beherrschte sogar „The River“ auf der Gitarre. Es kristallisierten sich Lieblingsalben heraus („The Promise“, „The River“, „Nebraska“) und Lieblingstracks („Highway Patrol Man“, „The Wrestler“, „Take Care Of Our Own“) und ich begann mich mit der Biografie zu beschäftigen. Folglich wurde ich und bin es noch immer, ein Springsteen-Fan, der in unbeobachteten Augenblicken durch die Wohnung tanzt und die Songs mitsingt.
Als ich meinem Freund kleinlaut das erste Mal von meiner beginnenden Obsession für Springsteen erzählte, musste er lauthals lachen. Ich weiß seine genauen Worte nicht mehr, aber es war irgendwas mit „irgendwann landen alle beim Boss“. Da hatte er Recht… Leider sehen wir uns als Clique nur noch alle paar Jahre, aber jedes Mal muss ich N. dafür danken, dass er vor knapp 35 Jahren Bruce Springsteen und seine Musik in mein Unterbewusstsein gepflanzt hat.

Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.