Enter Shikari und “A Kiss For The Whole World”: Nach dem Feuer
15.04.2023 | Kai Weingärtner
“Be my fire lily on the blackened ground”, singt Enter Shikari Frontmann und Charisma-Schleuder Rou Reynolds auf der ersten Single “pls set me on fire” ihres neuesten Albums. Die hier angesprochene Feuerlilie ist eine Blume, die häufig auf dem frisch verkohlten und dadurch sehr nährstoffreichen Boden nach einem Waldbrand wächst. Zu einem gewissen Grad lässt sich dieses Bild auf die Gesamtheit von “A Kiss For The Whole World” ausdehnen. Mit ihrem 2020 erschienenen Album “Nothing Is True & Everything Is Possible” entfachte das Quartett aus St. Albans eine kreative Feuerwalze, die dem ohnehin schon wilden Genremix der Band nun noch klassische Arrangements und theatrale Erzählstrukturen beimischte. Auf diesen Boden fällt also nun “A Kiss For The Whole World” und will selbstbewusst die geistige Nachfolge anzutreten. Die offensichtliche Bezüge zum vergangenen Album finden sich bereits in der eigenwillig gestalteten Tracklist. Alternierende Groß- und Kleinschreibung, Sonderzeichen und klar zusammenhängende Songpaare kennzeichnen auch “A Kiss For The World” als Album mit klarem Konzept.
Für die Band startete der Albumprozess knapp anderthalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie. Wie Reynolds selbst berichtet, hatten sich die Musiker in dieser Zeit stark zurückgezogen, der kreative Prozess drohte einzuschlafen. Dieser Knoten platzte auf spektakuläre Weise mit dem Auftritt von Enter Shikari beim Download Pilot Festival 2021. Plötzlich kam die Musik von selbst. “I just didn’t realise that the human and physical connection to other people were so central to how I write,” rekapituliert Reynolds. Der Spaß am Schreiben und Aufnehmen war wiedergefunden, und wurde offenbar mit solch Hochdruck in das Album gepresst, dass es an allen Ecken und Enden vor Spielfreude zu platzen droht. Schon der erste Satz des Openers “A Kiss For The Whole World x” macht klar, woher Enter Shikari ihre Energie ziehen: “Be embraced, billions.”
Musikalisch stehen die 12 Songs ganz im Zeichen des bandtypischen Genrewirrwarrs aus Hardcore, Punk, Elektro, eine Prise Sprechgesang und hier und da neuerdings auch kurzen Ausflügen in operettenhafte Gefilde. Insgesamt kommt “A Kiss For The Whole World” aber nochmal ein Stück wilder daher als “Nothing Is True & Everything Is Possible”, das seinen Spannungsbogen noch sehr stringent von einem zum nächsten Song aufbaute. Die neue Platte fühlt sich dadurch ein wenig sprunghafter, dafür aber auch um einiges befreiter an. Nicht jedes Rad muss ins nächste greifen, Banger können auch einfach mal Banger gelassen sein werden. Trotzdem fehlt es “A Kiss For The Whole World” keinesfalls an den großen Gesten und pathetischen Ausbrüchen, für die die Band bekannt ist. Bestes Beispiel dafür ist der stilistische Rundumschlag “Dead Wood”. Orchestrale Arrangements, getragene Chöre und mehr als ein unerwarteter Richtungswechsel führen die Hörer:innen auf einen Ritt durch die halbe Bandgeschichte, getrieben von einer songgewordenen Pinocchio-Metapher.
Bei all den musikalischen und textlichen Referenzen zum Vorgänger vergessen Enter Shikari aber keineswegs den Rest ihrer Bandgeschichte. So fällt schon mal der ein oder andere Verweis auf frühere veröffentlichungen wie “Live Outside”, der gleichzeitig noch den Aufnahmeprozess des Albums lyrisch umreißt, für den die vier Bandmitglieder sich auf einen abgelegen Bauernhof ohne Stromanschluss und Zentralheizung zurückzogen. Strom kam aus Solaranlagen, für die eigene Wärme musste man eben Holz hacken. Ein kurzzeitiges Leben weg von Allem. Dass “A Kiss For The Whole World” trotz dieser Umstände so klingt, wie es klingt, ist an sich schon eine Glanzleistung.
Wertung
Es bleibt nur zu hoffen, dass die Asche des Feuers der Livemusik, die Enter Shikaris Inspiration wiederentfacht haben, auch noch die nächsten Arbeiten der Band befruchtet. Denn wenn dabei immer solche Alben rauskommen, können wir uns noch auf sehr viel wahnisnnig tolle Musik freuen.
Wertung
Nachdem Enter Shikari nun seit vier Platten stetig ihr Genre wechseln, fusionieren sie auf "A Kiss For the Whole World" alles seit "A Flash Flood of Colour" miteinander und schaffen ein weitere Shikari Album aus dem Lehrbuch. Synthies, Epik, Geschrei, Gefühl, Raffinesse und wahnsinnig viele Anspielungen auf ihr restliches Werk sind das Ergebnis dieser ewig währenden musikalischen Genialität. "giant pacific octopus swirling off into infinity" ist übrigens alles, was ich dieses Jahr lesen wollte.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.