Kamasi Washington und “Fearless Movement”: Chimären
29.05.2024 | Kai Weingärtner
In einer Zeit, in der das Album als Format stetig an Bedeutung verliert, Tracklists auf 25 Minuten schrumpfen und die Grenze zwischen EP und LP reine Auslegungssache ist, muss man Künstler:innen wie Kamasi Washington eines lassen: hier kriegt man noch richtig was für sein Geld/ Streaming-Abo! Ganze 86 Minuten umfasst das Spiritual-Jazz-Epos “Fearless Movement” und bewegt sich dabei namensecht furchtlos durch verschiedene Einflüsse und Genres. Für diese Crossover ist Washington spätestens seit der transzendentalen Zusammenarbeit mit Kendrick Lamar auf dessen Album “To Pimp A Butterfly” allseits beliebt. Interessanterweise kommen hier auch einige weitere Kollaboratoren zum Zuge, die schon die Feature-Liste von “TPAB” zierten: Thundercat, George Clinton, Terrace Martin (damals noch als Produzent). “To Pimp A Butterfly” bleibt dabei allerdings das weitaus kohärentere Album, auch wenn dieser Vergleich natürlich maximal ungleich und somit wenig hilfreich ist. Die turbulente Reise, die “Fearless Movement” ist, lässt sich ganz poetisch in drei Phasen aufteilen.
Phase 1: Aufbruch
Die Platte beginnt mit “Lesanu”. der etwas über neun Minuten lange Intro-Track kommt, bis auf einige chorale Spirituals ohne Gesang aus und bietet einen stimmigen Einstieg in die Reise dieses Albums. Immer euphorischer werdend schlängelt sich der Song durch die Gehörgänge und hinterlässt dabei ein angenehmes (Gefühls-)Chaos. Aber das ist erst der Anfang.
Phase 2: Irrfahrt
Die “Probleme”, wenn man sie so nennen möchte, folgen auf dem Fuße. Wie schon erwähnt ist die Feature-Liste von “Fearless Movement” gespickt mit großen Namen, die den folgenden sechs Songs ihren Stempel aufzudrücken versuchen. Das ist dabei allerdings oft eher hinderlich als harmonisch. Auf “Asha The Fist” kommt Thundercat dabei noch am besten weg, da sein Chorus sich mehr oder weniger amalgam in die instrumentale Kulisse einfügt. Die Rap-Einlagen von Ras und Taj Austin wirken dagegen eher wie kratzige Fremdkörper in einem ansonsten organischen Song. Auch der darauffolgende Song “Computer Love” bleibt in Sachen Genre-Crossover recht zahm. Viel gravierender ist hier aber, dass der Song einen seine 9:26 richtig spüren lässt. All das führt dazu, dass sich beim Zuhören auf der ersten Hälfte des Albums die Gedanken unweigerlich auf Wanderschaft begeben, wodurch die Musik eher zum Hintergrund-Gedudel als zum wirklichen Zentrum der Auseinandersetzung wird.
Phase 3: Heimkehr
Glücklicherweise findet Kamasi Washington, wie auch der antike Irrfahrer Odysseus, irgendwann den Weg nach Hause. Der beginnt im Falle von “Fearless Movement” mit dem Song “The Garden Path”. Auch hier kommen noch einmal Vocals zum Einsatz, diese fügen sich aber eher wie ein weiteres Instrument in den Mix und geben so dem Gesamteindruck wesentlich mehr Raum zum Atmen, bevor “Road to Self (KO)” die Hörenden dann vollends aus der Trance zurückholt. Der vierzehn(!)-minütige Song ist das inoffizielle Herzstück des Albums und wie auch die titelgebende Selbstfindungsreise lang, kurvenreich und äußerst dynamisch. Von muffeligen Gitarren, knurrenden Bläsern bis zur völligen Jazzkalation im Finale hakt der Song methodisch sämtlich Euphorie-Auslöser ab und offenbart sich als der schillernde Preis am Ende der verwirrenden Reise, die die ersten sieben Tracks von “Fearless Movement” waren. Ausgerechnet der letzte Song “Prologue” (in sich schon eine kongeniale Idee) spuckt uns nun genau da aus, wo wir eingestiegen sind: lupenreiner Modern Jazz, Impro ohne Ende, ein Kamasi Washington der schier elefantöse Lungenkapazitäten beweist. Und auf einmal kommen einem die anderthalb Stunden Ritt gar nicht mehr so lang vor. Es ist, als sei man aus einem wilden Traum erwacht.
Wertung
Auf Alben wie dieses muss man Bock haben. Anderthalb Stunden wildes Chaos, und erst als der eigene Kopf das, was da musikalisch passiert, schon fast ins Unterbewusstsein verbannt, öffnet sich die Platte und bietet zum Ende noch ein paar echte Juwelen.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.