Sleep Token und "Take Me Back to Eden": Die Faszination des Aha-Moments
18.05.2023 | Dave Mante
Es gibt so Momente in der persönlichen Geschichte des Erlebens von Musik, welche sich nachhaltig und lang einbrennen. Aha-Momente, deren Existenz fundamental wichtig für den eigenen Horizont sind, obwohl sie für andere eher selbstverständlich oder komplett irrelevant erscheinen. Für mich fand einer dieser raren Momente beim hören des neuen Album „Take Me Back to Eden“ der britischen Prog-Metaler von Sleep Token statt. Lange war die Gruppe für mich eine Randerscheinung, welche mich nie so richtig packen konnte und auch die ersten Zuckungen des nächsten Albums waren weniger überzeugend für mich. Doch rasant schnell ändert sich dieses Gefühl. Es schlug von „ehh“ zu „EHHHHH WHAT“ um.
Aber ganz zum Anfang. Sleep Token fangen ihr drittes und letztes Album, zumindest dieses Zyklus', gediegen an. Die vermummte Band um Frontmensch Vessel hat mit ihren letzten drei Alben dabei eine Art Geschichte vor allem thematisch aufgebaut und bringt diese Trilogie nun hier zu Ende. Nachdem das Album schon ein paarmal komplett lief, ist die vorherige Meinung ziemlich egal, denn selbst „Chokehold“, welcher am Anfang lange brauchte, um überhaupt so richtig zu wirken, ist nun ein wahres Highlight des Gesamtwerkes. Der Aha-Moment kam dann allerdings schon im zweiten Song „The Summoning“. Dieser beginnt erst mal so, wie es von einem Sleep-Token-Song erwartet werden kann. Drückend hart wechselt sich fließend mit dem orchestralen cleanen ab. Hier noch ein Solo, hier eine Schreitirade und dann Break. Synthies hoch, Atmosphäre aufbauen, langsam das Instrumental wieder hochfahren und aus dem Nichts bricht der Song auf in einen souligen, ruhigen, ja eigentlich Tanzpart. Das ist keine sonderlich gute Beschreibung des nun stattfindenden Genres, aber es ist auch wirklich schwer, das richtig in Worte zu fassen! Kurzer Schockmoment und genau hier zeigen Sleep Token so richtig, was sie können, nämlich mit den Erwartungen der Hörer*innen spielen, in einem Maße, welches so sicher länger nicht mehr da war. „Take Me Back to Eden“ schreibt Geschichten, vermischt ganze Songs zu achtminütigen Strudeln des Unbekannten und schickt uns mit einem herzlichen Tritt auf eine Reise von Verlust, Melancholie und tiefer Trauer. Noch dazu streuen Sleep Token Songs wie „DYWTYLM“ ein, welche die Erwartung kitzeln, wo kommt der Bruch, ist dieser sehr ruhige Song nur die Vorhut zu einem epochalen Death-Metal Stück oder ist er doch nur hochemotional, sphärisch und trieft vor Atmosphäre? Findet es doch selbst raus!
Aber auch auf der harten Seite der PVC-Scheibe lassen Sleep Token wenig Platz für Wünsche. Immer wieder brechen die Briten aus, ballern mit krassen Breakdowns um sich und dazu kommt Vessel, welcher sich in bester Deathcore-Manier die Seele aus dem Leib schreit und damit sicher ein paar Gläser zum platzen bringen könnte! Diese Momente sind, ohne es wirklich zu sein, die schwächeren des Albums, denn hier klingen Sleep Token wie zig andere Bands, zumindest was Aufbau, Tempo und allgemeinen Klang des Breakdowns betrifft. Allerdings wirkte es meistens eher wie ein Spannungsaufbau, eben mal einen Breakdown reinwerfen, um das Genre dann wieder komplett umzudrehen. Es ist wirklich atemberaubend, dieses Album als Ganzes zu hören.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich hier noch schreiben soll, denn all das wäre ein einziger großer Spoiler, so als würde man sämtliche Enden eurer Lieblingsserien spoilern, gleichzeitig. Ihr solltet dieses Album jetzt hören und selbst erleben, was ich erlebt habe!
Wertung
Viele Alben behaupten von sich eine Reise zu sein, nur um dann am Anfang und Ende kurz einen Kreis zu schließen, welchen eh kaum jemand raushört. „Take Me Back to Eden“ hingegen ist eine Odyssee, und zwar eine für die eigene Erwartungshaltung. Während sich Sleep Token immer wieder darin verlieren, vollkommen unerwartete Stimmungswechsel zwischen ihren harten Metal zu legen, schaffen sie damit eine Klangwelt des Ungewissen, welche einen schnell einnimmt, um einen im nächsten Moment wieder aus genau diesem Sog rauszuwerfen und in einen anderen zu drücken. Worte können kaum beschreiben, was hier genau alles passiert. „Take Me Back to Eden“ muss man hören und nicht darüber lesen!
Dave Mante
Aufgewachsen zwischen Rosenstolz und den Beatles hört sich Dave mittlerweile durch die halbe Musikwelt, egal ob brettharter Hardcore, rotziger Deutschpunk, emotionaler Indie oder ungewöhnlicher Hip Hop, irgendwas findet sich immer in seinen Playlisten. Nebenbei studiert er Kunstgeschichte, schlägt sich die Nächte als Barkeeper um die Ohren oder verflucht Lightroom, wenn er das gerade fotografierte Konzert aufarbeitet.