St. Vincent und “All Born Screaming”: Im Taumel
29.04.2024 | Kai Weingärtner
Es soll mal einen Drehbuchautor gegeben haben, der seine besten Ideen immer nachts hatte. Damit er sie morgens nicht wieder vergessen hatte, beschloss er irgendwann, sich die Ideen schon nachts zu notieren. Als er irgendwann morgens auf seinen Zettel geguckt hat, stand dort nur “boy meets girl”. Was auch immer sich der Autor im Schlaf für absurde, ausufernde und großartige Geschichten zusammengesponnen hatte, am Ende lief es doch immer wieder auf eines hinaus: Menschen fühlen etwas für andere Menschen; Liebe, Anziehung, Lust. Annie Clark a.k.a. St. Vincent nimmt auf ihrer neuen Platte ähnliche musikalische Umwege, um am Ende doch wieder auf dieses Thema zu kommen. “All Born Screaming” ist ein Album über die Liebe als körperliche Erfahrung, in all ihren Facetten. Welche Intensität dieses Gefühl auslösen kann, deutet schon das Albumcover an. Eine sich gerade noch so auf den Beinen haltende Annie Clark verzehrt sich augenscheinlich schon so sehr, dass Teile ihres Körpers bereits entflammt sind.
Zum ersten Mal hat Clark ein Album komplett im Alleingang produziert. Ein Schritt, der angesichts der vielen Tonalitäten von “All Born Screaming” fast schon notwendig erscheint, um dem diffusen Innenleben der Platte eine stringente Form zu verleihen. Diese Mission ist Clark außerordentlich gut gelungen, denn obwohl die Songs zwischen exzentrisch und apathisch hin- und herwabern stellt sich nie das Gefühl ein, die Dinge wären ungeordnet. Wenn Clark das lyrische Du an der einen Stelle fast schon anlallt, um im nächsten Song wieder total sinnlich anzumuten, dann funktioniert das auch so gut weil alle Entscheidungen am Ende in ihren Händen zusammenlaufen. Durch die enorme Diversität von Stimmungen bekommt “All Born Screaming” etwas haltloses, ungefiltertes, komplett exzessives.
Dass St. Vincent grandios Gitarre spielen kann, ist allen Zuhörenden spätestens nach den ersten paar Minuten klar, es sei an dieser Stelle aber trotzdem nochmal hervorgehoben, wie wandelbar und vor allem unprätentiös Clark ihr Hauptinstrument einsetzt. Ähnelt das Gitarrenspiel in der Single “Broken Man” etwas an den von Josh Homme bekannt gemachten Drunken Stumble, macht es sich an anderer Stelle so rar, dass es fast gänzlich in den Hintergrund fällt. Auf “Reckless” beispielsweise stellt sich die Gitarre gänzlich in den Dienst des Songs, unterstützt den fibrigen Aufbau und lässt dem sich grandios anbahnenden Finale den nötigen Freiraum, ohne irgendwo ein Show-Off-Solo oder ähnliches einzubinden. Eines der größten Highlights des Albums hebt sich Clark für den Schluss auf, wenn der titelgebende Closer ab der Hälfte einen kompletten Bruch durchmacht, um sich dann zu einem immer weiter anschwellenden Choral aufzubauen, bei dem sich der eigene Herzschlag irgendwann fast zwangsläufig mit dem im Hintergrund wabernden Bass synchronisiert. Was für ein Finale!
Wertung
St. Vincent macht eine Platte über die Liebe in all ihren schönen, hässlichen, leisen und lauten Momenten. Dabei lässt sie die meisten gängigen Kitsch-Fettnäpfchen aus, verfällt nicht in Klischees, wird schmuddelig oder prätentiös. Dass das ganze dabei auch noch so fantastisch klingt, ist eigentlich nur noch Bonus.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.