Im Kreuzverhör #1: Visionist - "Value"
19.04.2018 | Jakob Uhlig
Jakob Uhlig: Würde ich mein musikalisches Ich auf ein Genre herunterbrechen, müsste ich mich ganz klar der Rockmusik unterordnen. Dennoch bin ich fasziniert von elektronischen Klangwelten, bieten sie doch angesichts schier unendlicher Variablen so viel Möglichkeit, in unergründetes Terrain vorzudringen. Die Realität sieht allerdings zumindest im Mainstream ganz anders aus. Es gibt derzeit wohl kaum eine generischere und simplifiziertere Bewegung als die EDM-Welle, die in ihrer Masse an Veröffentlichungen trotzdem ein Fortschreiten negiert. Will man also wirklich spannende elektronische Platten finden, dann muss man wie fast immer unter der Oberfläche graben. Und dann findet man Künstler wie Visionist.
Die Musik des bürgerlich Louis Carnell heißenden Produzenten bricht nicht nur viele bekannte Regeln der Klangästhetik, sondern führt auch immer wieder rhythmische Komponenten ad absurdum. Oft wirft Carnell unklare, deformierte Gebilde um seine klar gegliederten Kompositions-Passagen und eint so auf faszinierende Art und Weise Kontrolle und Chaos. Kontraste prallen auch im Sounddesign aufeinander. Im Hall schwebende Klavierklänge bekriegen sich mit scheinbar unmöglichen Beats aus Störgeräuschen und scharfer Dissonanz. „Value“, Carnells zweites Werk, wird so zu einer abstrahierten Rekapitulation der menschlichen Zerrissenheit und vollendet dabei gleichzeitig erfolgreich unerhörte Experimente.
Die Schwierigkeit und gleichzeitige Stärke dieses Werks liegt in seiner herausfordernden Hörerfahrung, die auch mich vor die komplizierte Frage stellte, ob all das hier nun schlicht genial oder doch verkopfte Ziellosigkeit ist. Die Antwort bekam ich erst nach vielen wiederholten Reisen in die Welt von „Value“: Ziellosigkeit und Dekonstruktion bilden das Fundament dieser Platte, was musikalische Irreführung in aller Schärfe zur Folge hat. Im Kern ist das Album aber gerade deswegen der Spiegel eines Künstlers, der nach der Normalität sucht und diese gleichzeitig fürchtet. „Value“ verstört, rüttelt auf und lässt gleichzeitig die Antworten durschimmern, die es so verzweifelt sucht.
Mithörer:
Moritz Zelkowicz: Die erste Reaktion: Was ist das?! Die erste Expertise? Ahhh... das ist Lärm. Die zweite, schon etwas exaktere Expertise: Ahhh... elektronischer Lärm. Aber nach mehrmaligem wiederholten Hören höre ich langsam richtiggehende Stilelemente heraus. Da ist Dubstep, plötzlich singt da jemand und zwar wundervoll und gefühlvoll. Nochmal durchhören, what the f***!? Ist das in diesem Industrial, Techno, Electrogewaber ein Dudelsack? Und dann irgendwann ein Banjo? Sind das überhaupt echte Instrumente? Und ist das da irgendwann auch noch ein Piano? Mal Getöse, als stände man in einer Fertigungshalle in einer Fabrik, dann wieder fast schwebend leichte Töne wie in einem Konzertsaal mit großartiger Akustik. Diese Sammlung von Stücken hat etwas von einem Kunstzyklus und ich muss an "The Big Lebowski" denken, die Szene als der Dude in diesem Avantgarde-Theaterstück seines Vermieters sitzt. "Value" ist definitiv sehr Avantgarde. Es ist ein Chaos, und immer wenn man denkt, einen roten Faden oder gar ein System gefunden zu haben, dann bricht das Stück plötzlich ab und wieder werden komplett andere Töne aus den Boxen gepumpt. Es ist dissonant, manchmal arhythmisch und vollkommen verrückt. Aber genau deswegen gefällt mir das dann doch irgendwie. Es lässt viele populäre Elemente des Electro, die mich sehr oft stören, einfach weg und ersetzt es durch etwas komplett Absurdes. Faszinierend und verwirrend zugleich. Und ich bekomme Kopfschmerzen, wenn es zu lange läuft.
Julius Krämer: Manch einem Hörenden dürfte es wie der Reminiszenz an Rodins Denker auf dem Artwork gehen und bei derartigem Lärm schnell die Ohren verschließen. "Value" will aber nicht gefallen, sondern klingt vielmehr nach einer Reise in die Abgründe menschlichen Unterbewusstseins: Noise, digitale Verzerrung und verstörende Klangteppiche treffen auf musikalische Zartheit und die epische Orchestrierung eines Woodkid. Visionist spiegelt damit auditiv die Engel und Dämonen wieder, die wohl irgendwo in jedem wohnen. Kleine Pop-Ausflüge wie "Your Approval" stehen neben "Exi(s)t", das wie ein Ausflug Hans Zimmers in die Welt der progressiven Elektronik klingt, sowie akustischen Kriegszuständen wie "New Obsession". Man darf das alles anzweifeln, man darf fragen „Ist das Kunst, oder kann das weg?“, man darf auch fragen, ob man so etwas überhaupt als Musik bezeichnen will. Visionist aber führt die etwas verloren gegangene, fast an Destruktivität grenzende klangliche Experimentierfreude eines Karl-Heinz Stockhausen oder Edgar Varèse weiter und fügt geschickt das nötige bisschen Übel an Harmonie und Eingängigkeit hinzu. Natürlich ist das anstrengend, aber das muss Kunst eben manchmal sein.
Sarah Ebert: „Value“ von Visionist ist ein ganz klarer Fall von: Muss man mehrmals gehört haben. Die ersten beiden Hörversuche musste ich, erst nach wenigen Takten, dann nach einigen Minuten, abbrechen, da mir einfach die Muße fehlte, um mich mit dem vermeintlichen Elektro-Lärm auseinanderzusetzen. Der erste Eindruck weckte merkwürdige Assoziationen zu der Kakophonie einer industriellen Fertigungshalle, in der absurderweise jemand mithilfe eines Synthesizers für Zerstreuung sorgen möchte – anstrengend und konfus! Während einer dämmrig-düsteren ICE-Fahrt in Richtung Berlin hat es dann Klick gemacht und ich konnte den wilden und doch anspruchsvoll arrangierten Klängen von Visionist lauschen und hörte die Scheibe im Repeat-Modus mehrmals durch. Aufwühlend und beruhigend zugleich ummantelten mich die Tracks, während ich Städte und bunte Lichter an mir vorbeirauschen sah. Generell habe ich ein sehr ambivalentes Verhältnis zu elektronischer Musik. Obwohl ich in den eigenen vier Wänden nur selten bis nie den elektronischen Auswüchsen gegenüber aufgeschlossen bin, lasse ich mich hin und wieder doch in Frankfurter Clubs zu ausgiebigen Tanzeinlagen hinreißen. Ich empfinde selbst gut gemachten Electro entweder als absolut nervtötend oder wunderbar hypnotisch. Auch „Value“ hat es geschafft, diese disparaten Emotionen in mir auszulösen und klingt beim finalen Hörversuch am heimischen Schreibtisch wieder ungeheuer anstrengend. Das Wort Hassliebe trifft es perfekt!
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.