Im Kreuzverhör #23: "STUMM433"
15.05.2020 | Jakob Uhlig
John Cages „4‘33‘‘“ ist ein provozierter Skandal. Die Uraufführung des Stücks 1952 traf das Publikum völlig unvorbereitet, denn niemand hatte den Anwesenden vor Betreten des Konzertsaals gesagt, was für eine Art von Musik an jenem Abend präsentiert werden würde: Nämlich ein Stück, das viereinhalb Minuten lang nur aus kompletter Stille besteht. Die aufgebrachten Reaktionen waren erwartbar und sind Teil des Konzepts. Ohne wenn und aber ist Cage mit diesem Werk aber einer der größten Kunstgriffe der Musikgeschichte gelungen, denn es stellt den letzten möglichen Tabubruch dar. Wie soll Musik jemals wieder irgendeine Form von Norm negieren, wenn sie nicht einmal mehr klingen muss? Was soll noch kommen nach einem Stück, das mit jeglicher Grundvorstellung dieser Art von Kunst aufräumt? Cage ist kein Pionier der stillen Musik, Erwin Schulhoffs „In Futurum“ wird etwa immer wieder herangezogen, wenn es um das Beispiel eines nur aus Pausen bestehenden Werks vor „4‘33‘‘“ geht. Cage ist aber der erste, der diesen Ansatz nicht als Parodie verstand, sondern komplett ernst meinte – und das ist das eigentlich Bemerkenswerte.
Nachdem nun das Vorgeplänkel abgehakt ist, noch schnell zum eigentlichen Gegenstand des Kreuzverhörs. Anlässlich ihres Jubiläums haben Mute Records eine viereinhalbstündige (war das Absicht?) Compilation mit über 50 Label-Künstlern veröffentlicht, die alle ein Cover von „4‘33‘‘“ aufgenommen haben. Die Namen der Interpreten sind teilweise unglaublich prominent und reichen von Depeche Mode bis hin zu den Einstürzenden Neubauten. Tatsächlich bekommt man nicht komplett viereinhalb Stunden Stille, wenn man die limitierte Vinyl-Box für über 200 Pfund kauft. Auf vielen Tracks sind Raum- oder Hintergrundgeräusche zu hören, was eine wichtige Prämisse von Cage bei „4‘33‘‘“ widerspiegelt: „There is no such thing as silence.“ Hätte Cage wohl auch den Ansatz von Swans-Frontmann Michael Gira befürwortet? Der zählt bei seinem Cover einfach die verstreichenden Sekunden auf. Eigentlich ist das fast egal, denn nach „4‘33‘‘“ kann es schließlich keine Grenzen mehr geben. Die „Stumm433“-Box ist sicherlich kein klanglicher Hochgenuss, aber ein fantastischer Denkanstoß für unser Verständnis von Kunst und ein idealer Stoff für Kontroversen. In diesem Sinne: liebe Redaktions-Kolleg*Innen, ich bin gespannt!
Als Jakob das Album mit der Nachricht „Ich weiß, es geht 5,5 Stunden“ (es sind übrigens „nur“ 4,5) angekündigt hat, bin ich schon stutzig geworden. Was mich dann erwartet hat, als ich widerwillig auf den Spotify-Link geklickt habe, war „STUMM433“. Ein „Album“ in ganz fetten Anführungszeichen. Ein „Album“, auf dem verschiedene Künstler*innen jeweils vier Minuten und 33 Sekunden Nichts aufgenommen haben. Mal mehr, mal weniger Lärmbelästigung. Das „Album“ besteht aus 58 „Songs“, Bands wie Einstürzende Neubauten oder Depeche Mode sind beteiligt. Die Idee basiert auf John Cages "4‘33‘‘", ein Stück, bei dem der spielende Musiker sein Instrument nicht bedienen darf und die Umgebungsgeräusche aufgenommen werden, um zu zeigen, dass es nie wirklich still ist und auch die kritische Frage zu stellen, ab wann etwas als künstlerisch wertvoll gelten kann. Und die „Stücke“ auf „STUMM433“ sind halt irgendwie Cover vom ursprünglichen "4‘33‘‘". Klar kann man darüber debattieren, was Kunst oder Musik ist, beziehungsweise ab wann ein Stück oder Album als solches gelten kann – aber mir viereinhalb Stunden unterschiedliche Formen von Lärm anzuhören, gehört definitiv nicht zu den Erfahrungen, die ich als angenehm oder wiederholenswert einstufen würde. „Experimentell“ ist das „Album“ auf jeden Fall, es zeigt auch auf, wo die Grenzen der Kunst liegen könnten (und eventuell, je nach Betrachtungspunkt, überschritten werden). Die finale Frage, was zur Hölle das soll beziehungsweise warum ich mir das komplett anhören sollte, ist jedoch immer noch nicht abschließend geklärt.
Als Jakob mit diebischer Freude ankündigte, er sei “gespannt” was wir von seinem Album halten würden, hätte ich skeptisch werden müssen. Dass es sich dabei dann um das legendäre “STUMM433” handelte, das als Kolumne schon seit geraumer Zeit in den Untiefen des Redaktionsplans herumgeisterte, hat meine Befürchtungen bestätigt. Na gut, so schlimm war’s ja dann auch nicht, zumindest wenn man mal drauf gekommen ist, dass sich das “Konzept” dieses Gemeinschafts-“Projekts” darin erschöpft, in viereinhalb Stunden zig mal 4:33 lange Pocket Dials der KünstlerInnen aneinanderzureihen. Wahrscheinlich sollte “STUMM433” tatsächlich mal ein ganz normales Album werden, das gestaltete sich aber als organisatorisch schwierig, da keiner der Beteiligten es für nötig hielt, an ihr Handy zu gehen, weswegen sich die Anrufer dann immer die Hintergrundbeschallung diverser Großstadt-Öffis anhören durften. Und dann haben sie einfach gesagt: “Fuck it, machen wa halt daraus das Album!”
Aber mal ernsthaft, ich kann das schon irgendwie fasziniert wertschätzen. Es ist gewissermaßen der ultimative Beweis dafür, dass Menschen den hirnrissigsten Scheiß derbe abfeiern können, weil “das ist halt Kunst”. “STUMM433” ist quasi das musikalische Äquivalent zur weißen Leinwand. Handwerklich betrachtet völlig lächerlich, aber auf so ne blöde Idee muss man auch erstmal kommen. Kunst ist eben eine Illusion, die nur davon lebt, dass wir ihr Bedeutung einflößen. Daher kann ich die Platte als künstlerisch total ausgefallenes Meisterstück anerkennen, aber ich hör mir dann in der Bahn doch lieber 3-Akkorde-Schrammel-Punk an als tatsächliche Bahngeräusche…
Zugegeben, die Idee mehrere Stunden Stille zu covern ist zu fantastisch um wahr zu sein. Diese Sammlung von Hosentaschenanrufen (zugegeben: es scheinen hervorragende Hosentaschen zu sein) allerdings als Meisterwerk zu verkaufen, erschließt sich mir absolut nicht. Es mag mir der musikalische Sachverstand fehlen, jedoch ist mir im Endeffekt doch jede lyrische Ausschweifung à la "Hömmasammawommanomma" lieber als dieses Machwerk. Aber vielleicht muss man tatsächlich Musik studieren, um "STUMM433" die Anerkennung zu schenken, die es möglicherweise verdient hat. Denn was bei mir hängen geblieben ist, sind viereinhalb Stunden (natürlich aufgeteilt), in denen ich mich alle paar Minuten bei anderen Aktivitäten erwische. Plötzlich ist auch der Abwasch eine lukrativere Beschäftigung, als mir die Busverbindung Castrop-Rauxel nach Bochum-Stiepel anzuhören.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.