„Ideen, die fliegen lernen“ – die Menschen hinter dem Pegasus Open Air im Gespräch
12.05.2019 | Jakob Uhlig
„In allen Städten hast du das Phänomen, dass sich die Jugend ihr Abendprogramm heute eher über das Internet holt und gar nicht mehr so viel rausgeht. Die gehen mal zu großen Künstlern, weil sie ihre Idole sind, aber kleine Bands müssen immer schauen, wo sie bleiben.“ Dennis Stölmacker breitet sich entspannt auf der bequemen Couch seines Wohnzimmers aus, während er diese Überlegungen anstellt. Um ihn herum sitzen Hanna Lohf und Florian Klein, die gemeinsam mit Dennis in idyllischer Abgeschiedenheit am Rande von Hamburg wohnen. Alle drei arbeiten gemeinsam am Pegasus Open Air, einem kostenlosen Festival in der Schleswig-Holsteiner Kleinstadt Mölln, das sich diesem Kultursterben zwangsläufig entgegenstellen muss. „In Mölln passiert diese Entwicklung auch. Als ich mit 16 bei uns das erste Mal im JuZ 'Takt-Los!' bei einer Rock-Night war, war das Ding komplett voll, da bist du teilweise gar nicht mehr reingekommen. Heute sind da so 30 bis 50 Leute, obwohl 250 Menschen reinpassen würden.“ „Mittlerweile hast du die Möglichkeit, dir an jeder Ecke Musik abzupumpen“, ergänzt Florian. „Warum soll ich noch irgendwo hingehen, wenn ich auf Spotify in einer coolen Playlist einfach alles hören kann, was ich möchte? Die Musik ist viel schneller erreichbar, als wenn du aktiv etwas dafür tun musst.“ „Ich bin damals vor allem zur Rock-Night gegangen, um Leute zu treffen, die die gleiche Musik mögen wie ich“, schildert Hanna ihre Perspektive. „Aber selbst das Kennenlernen solcher Menschen ist durch die totale Vernetzung mittlerweile viel einfacher geworden.“
Eine pessimistische Grundhaltung im Hinblick auf die Entwicklung des Live-Musikmarkts in Deutschland scheint durchaus angebracht, obwohl die Branche seit Jahren floriert. Preise für Konzerte sind einer überdurchschnittlichen Inflation ausgesetzt, neue Festivals sprießen wie Pilze aus dem Boden. Das Deichbrand Festival, dessen Logo Florians Pullover schmückt, konnte seine Besucherzahlen in den letzten fünf Jahren fast verdoppeln und ist den großen Majors in Deutschland sowohl im Line-up als auch im Preis mittlerweile sehr nah gerückt – eine Entwicklung, die die Branchenriesen frohlocken lässt, gleichzeitig aber auch zu einer zunehmenden Übersättigung und einem großen Druck auf kleine Veranstalter führt. Das ebenfalls im Hamburger Umland gelegene Ackerfestival muss so 2017 nach zwölf Jahren seine Pforten schließen, auch der Verlust des Serengeti Festivals dünnt die norddeutsche Festival-Landschaft weiter aus. Die Veranstalter nennen als Grund für die Absage, dass ein unabhängiges Open Air nicht mehr nachhaltig und budgetär seriös arbeiten könne. Geschichten wie diese führen zwangsläufig zu einer zunehmenden Homogenisierung des Markts. Wer Kompromisse oder Experimente wagt, riskiert, im Überangebot der Großen unterzugehen. Line-ups ähneln sich deswegen immer mehr, große Sensations-Acts gehen im Regelfall lieber auf eigene Tour, als auf Festivals aufzutreten. „Wir wollen es anders machen“, erklärt Florian. „Wir wollen möglichst vielen Newcomern eine Bühne bieten. Wenn man selbst Musiker ist, dann weiß man, dass es schwierig ist, irgendwo einen Auftritt zu bekommen, weil kaum noch Akzeptanz für Live-Musik da ist. Sobald die Band keine zigtausend Facebook-Likes hat, ist sie nicht interessant. Dagegen wollen wir uns stellen, weil man gerade bei kleinen Bands eine ganze Menge Diamanten entdeckt, die genau auf so eine Bühne passen und den Leuten ein Lächeln ins Gesicht zaubern.“
Dass das Pegasus Open Air in diesem Jahr bereits zum vierten Mal stattfindet, ist demzufolge nicht nur eine Gegenreaktion auf den Rückgang der Jugendkultur in Mölln, sondern spricht obendrein eine noch viel allgemeinere Problematik an. Das Projekt entsteht 2014, als der Möllner Straßensozialarbeiter Axel Michaelis Jugendliche aus der Stadt zur Gründung eines Jugendkulturbeirats einlädt. Beim ersten großen Treffen im Rahmen dieses Vorhabens ist auch Florian dabei. Im Plenum entsteht die Idee, ein Festival in Mölln zu organisieren, dass sich 2016 in seiner ersten Ausgabe manifestiert. Keiner der Mitwirkenden hat wirkliche Erfahrungen in der Organisation einer solchen Veranstaltung, deswegen ist der Möllner Kurpark ein dankbares Gelände. Bühne, Technik und Strom stehen hier bereits, die Anforderungen an die Konzeption einer eigenen Infrastruktur sind vergleichsweise gering. „Das erste Jahr war ein ziemlicher Erfolg“, erzählt Florian. „Dafür, dass wir das Festival einfach so aus dem Boden gestampft haben, waren echt viele Leute da. Wir haben bewusst kommuniziert, dass hier Jugendkultur stattfindet und eben keine Veranstaltung mit Volksfest-Charakter. Da war dann plötzlich gefühlt die ganze Stadt auf den Beinen.“ Gleichzeitig gibt es schon im ersten Jahr Beschwerden der Anwohner, die während der zweiten Ausgabe so massiv werden, dass das Pegasus Open Air seinen ursprünglichen Veranstaltungsort aufgeben muss. „Ich weiß nicht genau, wie hoch die Dezibel-Grenze im Kurpark ist, aber ein lauteres Gespräch wäre wohl schon zu viel“, grinst Dennis. „Für uns war das schon ein Schock“, schildert Florian das Ereignis. „Alle Bands sind gebucht, du hast alles aufgebaut, ein Jahr daran gearbeitet und dann kommt jemand und sagt, dass gleich jemand mit einer Verfügung auf der Bühne steht, wenn die Boxen nicht in einer halben Stunde abgebaut sind.“
Dieser Widrigkeit weicht das Team mit einem Umzug an den Möllner Ziegelsee aus und sorgt damit nicht nur für eine Umgebung mit mehr Akzeptanz, sondern im Endeffekt auch für einen Befreiungsschlag, der ganz neue Konzepte ermöglicht. „Die neue Location ist für uns eine Chance zu wachsen, uns auch technisch auszuprobieren“, erklärt Dennis. „Im Kurpark hast du zum Beispiel nur eine Traverse, an die du Licht hängen kannst. Eine eigene Bühne kostet natürlich mehr, aber man hat dafür auch ganz andere Möglichkeiten.“ „Der Tag, an dem das Festival dann zum ersten Mal auf dem neuen Gelände stattgefunden hat, war total super“, erzählt Hanna. „Man konnte wirklich sehen, wie die Leute auf das Gelände geströmt sind. Das ging vorher nicht, im Kurpark hattest du viele kleine Zuwege.“ „Du läufst auf dem Weg zum Gelände durch einen malerischen Tunnel aus Wald“, ergänzt Dennis schwärmend. „Der Platz ist dann komplett umringt von Bäumen, du siehst hunderte Leute, die sich freuen und dann geht die Musik an.“ Das neue Gelände erweist sich so als Glück im Unglück und steht auch sinnbildlich für eine Emanzipation, die das Team im Laufe der Jahre zu zunehmender Autonomie geführt hat. „Wir haben selbst die Führung übernommen und uns von der kleinen ‚Anschubhilfe‘ entfernt“, erklärt Florian. Der Sozialarbeiter, der einst den Startschuss für das Projekt gegeben hatte, hält sich deswegen mittlerweile im Hintergrund, ist aber immer noch leidenschaftlicher Unterstützer des Festivals und tritt auch in diesem Jahr wieder mit einer Feuershow auf dem Event auf.
Was das Team des Pegasus Open Airs dabei immer weiter antreibt, ist aber offensichtlich vor allem das Interesse an unentdeckter Musik. Der Couchtisch im Wohnzimmer der WG wird von zahlreichen alten Konzertkarten und Aufklebern geschmückt, die Arbeitsweise des Teams bei der Auswahl der Bands ergänzt dieses Bild. 182 Acts haben sich für das Pegasus Open Air 2019 beworben, darunter sind auch Bewerbungen aus den USA, Österreich, Norwegen und Dänemark. Trotz dieser massiven Zahl macht das Team es sich zur Aufgabe, jede einzelne Bewerbung anzuhören. Für zweieinhalb Tage pferchen sie sich gemeinsam in Dennis‘ Zimmer ein. Namen und Hintergründe aller Kandidaten kennt nur Dennis selbst, damit der Rest des Teams sein Urteil allein auf Grundlage der Musik bilden kann. Die Auswahl ist ein Kraftakt, der aber notwendig für eine faire Entscheidung ist. „Die Bands, mit denen wir so verkehren, machen vielleicht mal eine Aufnahme und bewerben sich dann bei uns“, beschreibt Florian den Prozess. „Unter Umständen ist diese Aufnahme dann aber auch schon zwei Jahre alt. Da finde ich es unfair, die gleich rauszuwerfen, nur weil ein Song vielleicht etwas rumpelig klingt. Deswegen schauen wir dann gerne noch, wie die Band eigentlich live ist. Und wenn man merkt, dass die mit ihrem Sound 500 Leute von der Bank reißen, muss man das auch mit einbeziehen.“ Aus diesem guten Willen geschieht nicht nur die Belegung für die sieben Slots des Festivals mit äußerster Gewissheit, sondern auch der Fall einer negativen Rückmeldung – Dennis schickt noch immer persönliche Absagen an alle Bands, die es nicht auf das Festival geschafft haben. Trotz der zahlreichen Bewerbungen ist das Team auch initiativ weiterhin auf der Suche nach guter Musik, Florian besucht so zum Beispiel regelmäßig Contests oder kleinere Konzerte, um neue Bands zu entdecken und anzusprechen.
So ist die Standfestigkeit des Pegasus Open Airs wohl vor allem in der akribischen Beständigkeit der dahinterstehenden Personen zu suchen, die damit einmal im Jahr für einen besondere Veranstaltung sorgen. Das Event hat in Mölln ein Alleinstellungsmerkmal inne und lockt dadurch sogar die Generation der digitalen Abendunterhaltung nach draußen – auch, wenn sich das Publikum des Festivals längst nicht auf diese Altersklasse beschränkt. „Du triffst am Tag des Festivals Leute, die schon 80 Jahre alt sind, sich aber persönlich bedanken, dass du das mit auf die Beine gestellt hast“, erzählt Hanna. „Die Arbeit im Team ist unglaublich spannend“, beschreibt Florian seine Motivation, die ihn dazu bringt, über das ganze Jahr etliche Stunden in die Organisation eines einzigen Tages zu stecken. „Es ist toll zu sehen, wie wir uns alle weiterentwickelt haben, wie wir persönlich wachsen, wie sich Freundschaften entwickeln, wie wir mit Herausforderungen umgehen. Man lernt viele neue Dinge, steht mit etlichen Menschen in Korrespondenz. Das ist ein spannender Prozess, der einen reifen lässt.“ Dieses individuelle Voranschreiten zeigt sich besonders aus der Perspektive von Hanna, die im Team des Pegasus Open Airs für die Grafiken zuständig ist: „Ich habe kurz vor dem ersten Jahr das Logo gestaltet. Ich hatte zwar schon vorher ein bisschen mit Grafik gearbeitet, aber das ist nie irgendwo abgedruckt oder veröffentlicht worden. Da ist es natürlich spannend, durch die Stadt zu laufen und überall deine Plakate zu sehen. Besonders krass war, als wir das erste Mal das Banner auf der Bühne aufgehangen haben und du diese kleine Zeichnung, die du irgendwann mal gemacht hast, plötzlich in total groß siehst.“ Florian bringt diese Philosophie auf den Punkt: „Dieses Festival bietet Raum für Ideen, die dann im Laufe der Zeit fliegen lernen.“ Eine schöne Allegorie für ein Projekt, das mit einem geflügelten Wappentier nach außen tritt.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.