Jahresrückblick 2023: Jakob
29.12.2023 | Jakob Uhlig
Wahrscheinlich eine Mischung aus zunehmendem Alter und diesem speziellen Jahr war irgendwie die Feststellung, dass mein Album des Jahres 2023 zwar eine ziemlich gesicherte Bank war, aber sich im Unterschied zu vielen anderen Platten und Erlebnissen auf dieser Liste nicht unbedingt als das Werk herausstellt, das sich als Konglomerat der unglaublichsten Momente meiner letzten zwölf Monate entpuppt. Vielmehr ist es die Platte, in der irgendwie alles stimmt, in der ich mich in diesem Jahr am kompromisslosesten wiederfinden konnte, in der ich mich aufgefangen fühlte. Vielleicht ist es das, was ich gerade von Musik brauche. Und trotzdem bin ich in diesem Jahr vor allem dankbar für diese besonderen Augenblicke, die mich mal wieder völlig aus dem Sitz gerissen haben.
Album des Jahres: Alfa Mist – „Variables“
Alfa Mist ist nun neben Fjørt der zweite Künstler überhaupt, der es schon zum zweiten Mal auf meine Jahres-Pole-Position geschafft hat. Der Weg dahin klingt bei dem bürgerlich Alfa Sekitoleko heißenden Musiker so verboten leichtfüßig, obwohl dahinter eigentlich so irre viel Virtuosität und Gefühl steckt. Im Gegensatz zum Vorgänger „Bring Backs“, den ich 2021 schon zu meinem Album des Jahres gekürt hatte, geht „Variables“ teilweise auch unheimlich forsch zur Sache. Damit meine ich weder etwaige archaische Free-Jazz-Läufe oder scharf schneidende Trompetensoli, sondern eher die beeindruckende Gratwanderung, selbst in die rasanteste und technisch brillanteste Passage noch so viel Leichtigkeit reinzubringen, dass sie sich absolut mühelos anhört. Das gelingt „Variables“ mit noch viel mehr Glanz als seinem Vorgänger. Und gleichzeitig spürt man bei Alfa Mist nicht nur auf der musikalischen Ebene, wie viel Wichtigkeit in jeder seiner Noten steckt. „Everyday trauma, normal life / Three options: Music, Sport or Crime“, heißt es in „Borderline“. Vielleicht ist es genau diese Flucht in ein wenig Aufgeräumtheit, nach der ich mich 2023 gesehnt habe.
Neuentdeckung des Jahres: Buttress
Ich schlage die Hände über meinem Kopf zusammen, krieche in Sack und Asche vor meinem analogen Musikkonsum liebenden Ich und schäme mich zutiefst vor allen meinen Old-School-Verfechtungen. Ich muss in meinem Rückblick nun offiziell mitteilen, dass meine Neuentdeckung des Jahres nicht von einem von einem Freund geschenkten Mixtape oder einem Plattenladenbesuch, sondern von einem YouTube Short kommt. Während aber das gerade viral gehende Instrumental von „Brutus“ tatsächlich ohne Vokalpart deutlich besser funktioniert als mit, weil die Spoken-Word-Passagen auf der wahnsinnig interessant und schön gestalteten Grundlage eher wie ein Fremdkörper wirken, ist das erst in diesem Jahr veröffentlichte Album „Endofunctor“ purer Genuss auf so vielen Ebenen. „Pure Data“ dürfte mit seinen unheimlich tight abgelieferten und gleichzeitig unkonventionell vorgetragenen Rap-Parts als einer der Banger des Jahres durchgehen. Das Interlude „A Prayer“ ist ein unheimlich verstörendes Gebet an die Rettung durch einen Gott – ein Motiv, das 2023 irgendwie vielfältig in meinen musikalischen Highlights wiederkehrte (siehe Rest-Liste). Und dann ist da noch „Shout Sister“, in dem sich die Künstlerin bis zum verzweifelten Weinen steigert – was für ein intensiver Moment. Hätte ich diese Platte früher kennengelernt, sie hätte vielleicht noch weiter oben in dieser Liste landen können.
Echtester Moment des Jahres: Reverend Kristin Michael Hayter – „How Can I Keep From Singing“
Wo ich bei Buttress und „Shout Sister“ gerade aufgehört habe, setzt Kristin Hayter – vormals Lingua Ignota – noch einen drauf. Während ich sehr enttäuscht hinnehmen musste, dass Hayters letzte Europa-Tour unter ihrem alten Pseudonym kurzfristig abgesagt werden musste, habe ich mit großem Interesse ihre neue Stilrichtung verfolgt. Entgegen meinen Erwartungen ist das erste Werk unter dem neuen Namen dabei keineswegs weniger verstörend geraten als die alten Platten, obwohl Hayter vornehmlich auf folkloristisches und in sich gekehrtes Liedgut aus alten Traditionen zurückgreift. Dieses Material verarbeitet sie aber derartig virtuos und kontextverschiebend, dass es völlig entwurzelt wird. Das beste Beispiel ist der Closer „How Can I Keep From Singing“, in dem ein klarer und ruhiger christlicher Folksong aus dem 19. Jahrhundert eine parallel erklingende Panikattacke der Künstlerin überlagert, die entsetzlich durch Mark und Bein geht. Aufwühlend, unnachgiebig, fast schon unerträglich – nie hatte ich in diesem Jahr das Gefühl, mehr hinter eine Fassade blicken zu können.
Herausforderung des Jahres: Kora Winter – „Gott segne, Gott bewahre“
Buttress betet in verzweifelter Suche nach Halt zu einem „Lord“, Kristin Hayters Gottvertrauen ist scheinbar nur eine Fassade und Kora Winter haben gleich ein ganzes Album gemacht, in dem es um das Festklammern an Esoterik und Übernatürlichem geht. Wahrscheinlich passt es, dass ich mich ausgerechnet in diesem Jahr das erste Mal aus Interesse in einen katholischen Gottesdienst gesetzt habe und von der dortigen Ästhetik völlig weggehauen war. Dass hier also eines meiner Lebensthemen in 2023 zu liegen scheint, machte „Gott segne, Gott bewahre“, den Zweitling einer meiner absoluten Lieblingsbands, trotzdem nicht weniger herausfordernd. Das hängt zum einen damit zusammen, dass der Vorgänger „Bitter“ für mich eine der besten und prägendsten Platten aller Zeiten ist und möglicherweise für immer die einzige 10/10 bleiben wird, die ich je bei Album der Woche vergeben habe. Dass man da utopische Erwartungshaltungen kaum abschalten kann, erklärt sich von selbst. „Gott segne, Gott bewahre“ hat mich in diesem Jahr vor allem deswegen tief beeindruckt, weil es diesen Druck wirklich mit vollem Bewusstsein torpediert. Kora Winter klingen auf ihrer neuen Platte so unheimlich harsch und direkt, tauschen epochal-planvolle Dramaturgien und Song-Aufbauten wie noch in „Coriolis“ teilweise gegen völlig ungestüm reinpreschende Brecher wie „Der missratene Sohn“, die auch spiegeln, dass Kora Winter mittlerweile mehr kämpfen wollen, anstatt bekämpft zu werden. Das hat in einem Jahr, in dem ich immer verzweifelter über die Konfrontationslust einer Welt werde, in der ich doch einfach nur gerne in Frieden, Solidarität und Aufopferung leben würde, definitiv einen Nerv getroffen. Damit klarzukommen fällt mir aber unheimlich schwer. Während „Bitter“ mich irgendwie in seiner Verzweiflung noch auffangen konnte, fühlt sich „Gott segne, Gott bewahre“ wie ein regelrechter Gewaltakt an und wird vielleicht zu der Art von Platte werden, die ich wie Oathbreakers „Rheia“ wahnsinnig wertschätze, bei der ich aber auch jedes Mal tief durchatmen muss, bevor ich sie auflege. Umso beeindruckender ist dann aber wieder, dass ich trotz dieser düsteren Wolke, die für mich über „Gott segne, Gott bewahre“ liegt, immer noch so viele Songs dieser Platte einfach nur geil finden kann. Mein erster Liebling war lange Zeit das unfassbare „Alle gegen alle“, das die Kampfesnotwendigkeit der Platte wohl so gut widerspiegelt wie kein zweiter Song und mit seinem grandios aufgebauten Finalpart vielleicht zu den dramaturgisch genialsten Dingen zählt, die Kora Winter je vollbracht haben. „Marmelade“ mit Johannes von Kind Kaputt ist wahrscheinlich mein Hit des Jahres – diese Art von Konnotation hatte ich dieser Band ehrlich gesagt nie zugetraut. „Neuer Tag im Rattenloch“ beginnt mit einem kurzen Moment des Innehaltens und wirklich aufwühlenden Fragen. „Sag, wo ist die Liebe hin? Wo ist die gottverdammte Leidenschaft? Für wen geb‘ ich mich auf?“ Dass all das direkt danach wieder klanglich zerschmettert wird, haut mich jedes Mal aufs Neue von den Sitzen. Und dann ist da noch „BBDDSSMM“, der wahrscheinlich unglaublichste Song dieser Platte. Neben seinem bombastischen Instrumental und den fantastischsten Textzeilen, die ich je über sexualisierte Hierarchien gehört habe („Befrei mich, wenn du mir die Freiheit raubst“; „Ich seh‘ den Mensch vor lauter Körper nicht“, „Meine Haut gehört dem Herren“), zeigt dieser Track vor allem, wie weit Frontmann Hakan Halaç mittlerweile als Sänger gekommen ist. Liebe 10.000 andere Metal-Schreihälse, die es da draußen gibt: SO klingt echte Angriffslust – und zwar gerade, weil sie kein gutturales Scream-Dauerfeuer ist.
Live-Erlebnis des Jahres: Karlheinz Stockhausens „Sonntag aus Licht“ in Paris
2023 habe ich einige wirklich unglaublich beeindruckende Konzertmomente mitgenommen. Ich habe das erste mal Swans live genießen dürfen, nachdem ich schon befürchtet hatte, diese Chance für immer vertan zu haben und wünschte, ich wäre nicht den halben Auftritt mit meinen damals leider ziemlich schwerwiegenden Angstzuständen beschäftigt gewesen. Ich war eine Woche bei den Darmstädter Ferienkursen und habe teilweise völligen Schund und teilweise absolut grandiose Sachen erlebt. Da erlebte ich mit Ricardo Eiziriks „Adolescência“, zum Beispiel ein wirklich spektakulär mitreißendes Noise-Spektakel. Daneben hat mich vor allem beeindruckt, dass mich bei einer Veranstaltung, die Musik mit Milchaufschäumern und Computer-Tastaturen auf die Bühne bringt oder Konzerte gar zu begehbaren Raum-Ausstellungen macht, ein Konzert am meisten mitgerissen hat, das einfach nur ein Streichquartett war, aber die wohl fragilsten Klänge hervorbrachte, die ich jemals gehört habe – ich frage mich, ob die anderen Zuhörer:innen von Sarah Hennies‘ „Borrowed Light“ das auch so empfunden haben wie ich. Ich konnte jedenfalls zwischendurch kaum atmen. Dann endete das Jahr aber natürlich noch mit einer meiner geliebten Pilgerreisen zu einer Stockhausen-Oper. Der „Sonntag aus Licht“ fand dieses Mal in Paris statt, beinhaltete neben Musik und Performance sogar Düfte und ließ mich vor allem beim letzten Stück niederknien, das parallel in zwei Räumen stattfand und in dem zwischenzeitliche Live-Zusammenschaltungen der Chor- und Orchestersektionen wie ein Signal aus dem Jenseits eine ritualartige Musik in völlig neue Dimensionen hoben. Schon wieder Musik, die irgendetwas Göttliches anspricht. Vielleicht ist der Glaube an etwas Überirdisches 2023 wirklich der einzige Weg gewesen, um noch irgendetwas in der so brutalen realen Welt greifen zu können.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.