VV und "Neon Noir": alte Liebe rostet nicht
03.01.2023 | Johannes Kley
Ich habe mich vor einiger Zeit aus dem Review schreiben zurückgezogen, weil es mir immer sehr schwer fällt, halbwegs objektiv zu schreiben und es mir immer leid tat, schlechte Bewertungen zu schreiben. Die Künstler und Künstlerinnen haben sich ja meist Mühe gegeben und dann komme ich, der außer einer Band mit vier Auftritten und einem popeligen Vaporwave-Projekt nichts auf die Reihe gekriegt hat und sage, dass es schlecht ist? Who am I to judge? Naja. Jedenfalls hat Lucio mir den Link zum neuen Ville Valo-Album geschickt und ich wusste nicht so recht, ob ich was darüber schreiben soll, aber für meine erste musikalische Liebe ist ja wohl eine Ausgabe der Joelumne drin!
Eins vorweg - nicht nur das Logo erinnert sehr stark an seine ehemalige Band und er selbst sagte auch: "Künstlerisch gesehen besteht der Hauptunterschied zwischen HIM und VV in der zusätzlichen Linie im Heartagram, aber was für eine exquisite Linie das ist!“. Musikalisch könnte das Album HIM-Fans vorgespielt werden und sie würden sofort glauben, dass es eine Reunion gab, auch einfach weil die Band in ihrer Karriere selbst einige stilistische Wechsel gehabt hat und es ihr zuzutrauen wäre, so zu klingen. Das verwundert kaum, war es doch Valos Stimme, die die Band über die Jahre hinweg trug und sein Gesicht war auch stets das Gesicht der Band. Natürlich waren seine Bandkollegen essentiell, aber namentlich bekannt waren diese den meisten Fans nicht. Valo war die Band, war auf den Promofotos halbnackt vorne und auch wenn seine Bandkollegen an Interviews beteiligt waren, war er es, der am meisten sprach und bei Bam Margeras MTV-Show auftrat. Ohne Ville hätte HIM es wohl nicht geschafft über Jahre hinweg so erfolgreich zu sein.
Das Aushängeschild der finnischen Musikszene hat auf Promofotos mittlerweile mehr an als früher (wodurch sein schönes Heartagramtattoo nicht zu sehen ist, was ich unbedingt auch haben wollte), trägt oft so eine komische Mütze und ist auch klanglich etwas zurückhaltender geworden. Wenigstens ein Musiker, der noch stilvoll altert. Ville Valo hätte ich mir auch nicht als zweiten Iggy Pop gewünscht. Die Songs sind thematisch aber immer noch von Liebe und Trauer geprägt und dürften bei Fans der alten Band schnell Anklang finden. Ein außergewöhnliches Alleinstellungsmerkmal zu finden ist schwer und erinnert mich ein bisschen an das erste Solo-Album von Farin Urlaub. Es klang damals nicht hundertprozentig wie Die Ärzte, aber auch nicht anders genug, als dass es eben nicht auf einem Album der Band hätte landen können. Gut, HIM gibt es nicht mehr und so hat Ville eben ein Album geschrieben, was ein wenig elektronischer (HIM hatte ja schon immer einen Keyboardplayer, aber auf "Neon Noir" kommt diese Note teils ein wenig mehr nach vorn) klingt, aber dennoch den alten Rockpathos und das Gefühl der Band innehat, auch wenn es manchen Fans von früher vielleicht ein wenig zu poppig klingen könnte (wobei die letzten Alben auch schon poppiger als die ersten Werke waren). Über den Song „Neon Noir“ sagt Ville in einem Interview selbst, dass er sehr nach HIM klingt, was aber nach all der Zeit auch nicht verwundert.
Songs wie „In Trenodia“ erreichen vielleicht nicht die Schönheit eines „When Love And Death Embrace“, aber kommen nah genug heran um dazu einzuladen, mich in Valos Stimme zu verlieren und mitzulieben und zu -leiden.
Um ehrlich zu sein waren die letzten HIM-Alben auch nicht die Meisterwerke, die "Deep Shadows And Brilliant Highlights" und "Razorblade Romance" noch waren und wer "Tears On Tape", so wie ich, mochte, wird sich mit "Neon Noir" sehr wohlfühlen.
Wie geht es mir, der HIM seit 1999 liebte, mit diesem Album? Ich bin positiv überrascht. Als ich das VV-Logo sah musste ich lachen und dachte, dass ich jetzt "Summer Wine" 2.0 bekomme, aber Ville den Ruhm seiner alten Band nochmal mitnehmen möchte, in dem er das alte Logo mitnimmt. Ich habe falsch gedacht. Es war eher ein Versprechen. "Neon Noir" klingt nach HIM, ohne die anderen Bandmitglieder und wer Valos Stimme und seine Texte mochte, wird das Album mögen. Ich habe es nach dem ersten Durchhören jedenfalls vorbestellt.
Und sind wir mal ehrlich - was hätte Valo mit dieser wunderschönen Stimme denn sonst machen sollen? Ein Grindcoreprojekt? Rap? Nein. Ville gehört in die Welt der melancholischen Rockmusik und wenn Songs wie "Run Away From The Sun" dabei herauskommen, darf er gerne weitermachen. Die epischen, pathosgeladenen Songs, die von unerfüllter Liebe handeln und von seiner einmaligen Stimme getragen werden, dürften die alten Fans weiterhin begeistern und sicherlich auch neue Fans gewinnen.
Wie anfangs erwähnt gebe ich keine Bewertungen mehr. Eine Kaufempfehlung gibt es aber. Wer meinen Konzertbericht von der Abschiedstour liest, weiß wie ich für die Band empfinde und wer ähnlich fühlt, kann das Album bedenkenlos kaufen. Für mich ist es ein bisschen wie die Scores von Trent Reznor. Ja, es ist kein Nine Inch Nails, aber nah genug dran, dass ich es fast genauso sehr liebe. Bei Ville Valo ist es eben genauso. Aber auch Menschen, die HIM nie gehört haben (das solltet ihr als erstes tun!!!) dürften "Neon Noir" mögen. Es ist gut geschriebene, emotionale Rockmusik mit einer der markantesten Stimmen der Rockmusik.
Meine erste musikalische Liebe hat mich nicht enttäuscht und auch wenn ich mir natürlich lieber ein Album der Band gewünscht hätte, so hat Valos Album definitiv eine Daseinsberechtigung und mein Herz erobert. Ich habe heute jedenfalls meinen alten HIM-Zipper von 2006 aus dem Schrank geholt und angezogen. Ein peinliches Foto aus dem halleschen Hauptbahnhof, als wir auf dem Weg zum Konzert nach Leipzig waren, folgt.
Die Digitalkameras waren damals offensichtlich nicht so gut. Egal.
Auch nach 23 Jahren ist die Liebe zu diesem Mann nicht erloschen und ich bin froh darüber. Also. Legt euch mit dem Menschen, den ihr liebt, auf die Couch, legt "Neon Noir" in den CD-Player und kuschelt. Die Welt ist beschissen genug und wer Krieg, Corona, Inflation, Bölleridioten, Rassist:innen und Klimawandel mal kurz ausblenden möchte, ist von Ville herzlich eingeladen. Wer Liebeskummer hat darf natürlich auch auf der Couch liegen und weinen.
Johannes Kley
Kolumnist und Konzertmuffel Joe ist Gesundheits- und Krankenpfleger in Bochum, liebt seinen Hund, liest leidenschaftlich gern, gibt ungern Bewertungen für Alben ab, ist Musikliebhaber, irgendwo zwischen (emotional) Hardcore, Vaporwave, Goth-Pop und Nine Inch Nails und versorgt euch unregelmäßig mit geistigen Ergüssen aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt.