Die Klassiker von morgen: Wegweisende Musikmeilensteine
11.08.2021 | Album der Woche Redaktion
Zeal & Ardor: “Stranger Fruit”
Innovation beschränkte sich während der letzten Jahre in den Sphären der Rockmusik allzu oft darauf, hier und da vielleicht mal ein paar elektronische Spielereien in die ansonsten immergleichen Gitarrenriffs einzustreuen (“Musik aus’m Computer?! Das sind doch gar keine echten Instrumente!!!1!", hört man einen Metalhead aus der Ferne rufen). Die wirklich großen Neuerungen gibt es leider — vor allem auf rein musikalischer Ebene — viel zu selten. Eine dieser Erschütterungen fegte durch die Metal-Szene, als der Schweiz-Amerikaner Manuel Gagneux 2016 unter dem Namen Zeal & Ardor sein Debüt “Devil Is Fine” veröffentlichte. Nicht nur, dass dieses Werk ursprünglich eine Reaktion auf einen rassistischen 4Chan-Kommentar war, was an sich schon so ziemlich der lässigste Mittelfinger jemals ist, es verbindet auch auf bis dato nie dagewesene Weise Genres miteinander: Black Metal, Blues und Gospel. Das sein “Black Black Metal” nicht nur ein Gimmick ist, stellte Gagneux mit seinem Follow-Up-Album eindrucksvoll unter Beweis. Selten hat ein:e Künstler:in oder ein Album Genre so neu gedacht wie Zeal & Ardor mit “Stranger Fruit”. Für mich ein Instant-Classic und hoffentlich wegweisend dafür, dass sich andere Künstler:innen auch in Zukunft solche verrückten Experimente trauen.
Turnstile: "Time & Space"
Nach den 25 Minuten von „Time & Space“ ist Hardcore plötzlich anders, bunter, offener. Nicht falsch verstehen: Turnstile geben den Hörer:innen genauso auf die Fresse wie ihre Vorbilder. Aber sie tragen dabei Hawaiihemd, grinsen breit und schlagen zwei, drei Flickflacks. Kaum ein Song endet so wie er beginnt. Die Band erklärte das mal damit, dass sie schnell gelangweilt sind. Und Langeweile kommt auf „Time & Space“ auf keinen Fall auf: „Generator“ und „Come Back For More/H.O.Y.“ tauchen mehr als nur den großen Zeh in Shoegaze, auf „High Pressure“ hört man ein Rock’n’Roll-Piano und „Moon“ will eigentlich eine Emo-Hymne sein. Die soulig-jazzigen Intermezzos „Bomb“ und „Disco“ lassen beim Hören kurz durchatmen, bevor man ins nächste Brett geworfen wird. Da, wo Slapshot oder Judge breitbeinig dem Breakdown entgegen gehen würden, tänzeln Turnstile im letzten Moment lässig in völlig andere Gefilde. Dass alle Konzerte die Turnstile ankündigen innerhalb kürzester Zeit ausverkauft sind, zeigt, wie sehr die Szene diesen frischen Wind gebraucht hat. Und mit Kollabo-Partnern wie Blood Orange und Mall Grab scheint auch der Crossover in den geschmackssicheren Mainstream nicht mehr weit.
Polyphia - "New Levels New Devils"
An so etwas wie eine Zukunft von Gitarrenmusik kann ich bisweilen nur ganz schwer glauben. Viel zu viel Konservatismus umschwebt insgesamt die Träger:innen dieses Relikts vergangener Zeiten und zu wenig neue Ideen kommen, um dieses Instrument in die Gegenwart zu führen. Wer den Zeitgeist anschaut, weiß, dass das theoretisch über Hip-Hop funktionieren müsste. Leider kommen viele der einschlägigsten Beispiele für diesen Spagat von Rappern, die Rockmusik so überhaupt nicht verstanden haben und dadurch eher wie Opas als wie Innovatoren wirken - Eminem kann ein Lied namens "Remind Me" davon singen. Bilderbuch sind eines der wenigen Beispiele dafür, wie man eine Bandbesetzung in die 2010er überführt - nämlich, indem man US-amerikanische Strömungen speziell um Persönlichkeiten wie Kanye West in seinen Sound integriert, bevor das irgendjemand sonst im deutschsprachigen Raum geahnt hat. Noch schwieriger wird das Ganze, wenn man instrumentale Musik machen will, die im 21. Jahrhundert eh einen immer schwierigeren Status hat und im Allgemeinen fast nur noch als Hintergrundbeschallung zum Pauken für die nächste Uni-Klausur missbraucht wird. Polyphia hatten mit dem Vorhaben eines instrumentalen Gitarrenalbums im Jahr 2019 also eigentlich die denkbar schlechtesten Voraussetzungen und haben gerade deswegen dafür gesorgt, dass "New Levels New Devils" als wegweisender Klassiker im kulturellen Gedächtnis bleiben wird. Denn die Band hat alles begriffen: Sie instrumentalisieren die Gitarre zeitgeistig als Beat und nicht als Riff-Grundlage. Ihre melodische Arbeit ist so komplex, so originell und gleichzeitig so eingängig, dass man kaum anders kann, als aufmerksam zuzuhören und zu jubilieren. Mit "G.O.A.T." hat die Band sogar wieder einen Track geschaffen, den alle Gitarren-Kids unbedingt nachspielen wollten. Wann gabs sowas das letzte Mal? Bei "Do I Wanna Know?" von den Arctic Monkeys im Jahr 2013? Und schließlich hat Polyphia-Kopf Tim Henson auch verstanden, wie man Genialität heute vermarktet. In seinen Youtube-Videos gibt er spannende Infos darüber, wie er die Songs der Platte gemacht hat und wie zum Beispiel "G.O.A.T." ursprünglich aus dem Nachbau eines Jaden-Smith-Songs entstanden ist. Das vielleicht innovativste Instrumental-Album des vergangenen Jahrzehnts kann und muss als genau das erinnert werden.
Billie Eilish - When We All Fall Asleep, Where Do We Go?
Sicherlich einer der längsten Albentitel der vergangenen Jahre beschreibt ein 2019 erschienenes Album der damals siebzehnjährigen Billie Eilish – und was höchstwahrscheinlich in die Musikgeschichte der 2010er eingehen wird. Mit „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ hat sie nicht nur ihren Durchbruch besiegelt, sie hat ganz nebenbei auch noch ein neues Genre geschaffen. Der flüsternde, manchmal fast gesprochene, sphärisch-hauchende Gesang macht gemeinsam mit dem basslastigen Sound und den oftmals creepy erscheinenden Klängen und Texten das Album aus. Endlich gibt es eine junge Singer/Songwriterin, die nicht eine weitere Selena Gomez/Taylor Swift ist und aus der Masse quasi gar nicht raussticht. Der Song „bad guy“ hat mittlerweile zudem fast die zwei Milliarden Streams auf Spotify sowie 1.1 Milliarden Youtube-Aufrufe geknackt. Etwas, das so sehr „Alternative“ schreit, und dem trotzdem der internationale Mainstream verfällt, gab es eigentlich noch nie, oder?