Editorial: Themenmonat "Extreme Musik"
31.08.2020 | Jakob Uhlig
Das Titelbild dieses Editorials ziert Daughters-Frontmann Alexis Marshall beim Konzert seiner Band im Hamburger Hafenklang - ein Auftritt, bei dem ich selbst zugegen war und der mir bis heute als eine der wahnsinnigsten Shows meines gesamten Lebens in Erinnerung geblieben ist. Dazu trug nicht nur die ohrenbetäubend martialische Musik bei, sondern auch die Performance des selbstzerstörerischen Sängers, der auf der Bühne hemmungslos seinen Speichel-Fetisch und seinen Hang zur Selbstverletzung zelebrierte. Nicht ganz verwunderlich, dass unser Kollege Marvin - der Fotograf des obigen Bilds - die Venue damals nach den obligatorischen drei Songs geradezu fluchtartig wieder verließ. Ein unsagbar intensives und verstörendes Erlebnis, von dem ich immer wieder gern berichte - und doch muss man zugeben, dass die Extreme von Daughters gegen die Künstler, die wir in diesem Themenmonat besprechen, teilweise fast noch wie Kleinkram wirken.
Gerade Kollege Felix, der damals ebenfalls bei jenem legendären Daughters-Gig dabei war, hatte für diesen Monat wirklich eine Menge abgefahrener Ideen. So ist es ihm zu verdanken, dass Album der Woche im Rahmen des Themenmonats am 5. September in Halberstadt zu Gast sein wird, wo seit einigen Jahren das langsamste Musikstück aller Zeiten aufgeführt wird. John Cages "Organ2/ASLSP" wird auf einer Orgel gespielt und wird bei seiner Vollendung im Jahre 2640 sage und schreibe 639 Jahre angedauert haben. Entsprechend der Langsamkeit des Stücks wechseln die Noten nur alle paar Jahre - und an jenem 5. September findet genau dieses Ereignis nun statt! Das Timing mit dem Themenmonat ist in diesem Fall übrigens tatsächlich reiner Zufall - scheinbar wollte es das Schicksal so.
Neben diesem ziemlich einzigartigen Event hat die Redaktion für euch aber auch noch eine ganze Reihe anderer musikalischer Extreme parat. Jannika hat sich zum Beispiel gefragt, was mit Musik passiert, die nicht nur klanglich, sondern auch inhaltlich extrem ist. Das Ergebnis ist ein Bericht über das Phänomen des "NSBM" ("National Socialist Black Metal"), der den düsteren Sound dieser speziellen Subkultur mit rechtsradikalen Inhalten in Verbindung bringt. Abseits von politischem Extremismus schauen wir aber auch auf Sound, der hart an der Grenze des Erträglichen ist. Ich habe so eine Kolumne über Noise-Musik geschrieben, die nicht ohne Grund bei vielen Menschen für Stirnrunzeln sorgt, aber in meinen Ohren etwas repräsentiert, was fast jeder anderen Musik fehlt. Ebenfalls von Felix inspiriert ist außerdem mein Bericht über die japanische Band Hanatarash, die bei ihren Live-Shows für dermaßen viel Zerstörung sorgte, dass sie irgendwann fast überall Auftrittsverbot bekam - unter anderem fuhr man einmal mit einem Bulldozer geradewegs durch die Rückwand einer Konzertvenue.
Schließlich werfen wir in diesem Monat auch noch einen weiten Blick über die Landschaft musikalischer Höhenflüge. Steffen hat sich dafür mit der Geschichte des klanglichen Extrems beschäftigt - und zeigt, dass mancher Wahnsinn von damals heute völlig normal geworden ist. Kai wiederum zieht ein Resümee aus heutiger Perspektive und begutachtet musikalische Weltrekorde - ein wahres Sammelsurium an Verrücktheiten.
Ich muss wirklich sagen, dass ich selten so viel Spaß und Faszination für einen Themenmonat empfunden habe wie für diesen hier. Ich hoffe, wir können euch ein wenig davon mitgeben. Wie immer wünschen wir euch viel Spaß beim Lesen und einen großartigen September!
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.