Festivals und Utopie - Livemusik der Zukunft
20.08.2021 | Jannika Hoberg
Wenn wir eines durch Corona gelernt haben, dann, dass die Eventbranche in der Form wie wir sie kennen, leider überhaupt nicht krisensicher ist. Und ich will diesen Artikel jetzt nicht wahnsinnig pessimistisch beginnen, aber in Zeiten der Klimakrise werden weitere Pandemien, Unwetter und Hitzeperioden, die Festivals erschweren oder unmöglich machen, sicherlich nicht lange auf sich warten lassen. Umso wichtiger, dass wir mit dem Drang nach Livemusik nicht sogar noch dazu beitragen, dass Festivals durch unausweichliche Krisen nicht mehr stattfinden können. Es braucht also nachhaltige und zukunftssichere Konzepte für Touren und für Festivals.
Mit diesem Artikel möchte ich euch einladen, von einem utopischen, vielleicht perfekten Festival zu träumen.
Wir beginnen mit der Anreise – wir haben sicherlich alle schon Stunden bei sengender Hitze im Stau vor größeren Festivals gewartet. Dass der motorisierte Individualverkehr nicht die Zukunft sein kann, ist klar. Aber was wäre aktuell die Alternative? Mit Sack und Pack wird sich also mit mehreren Taschen pro Person in den Öffentlichen Nahverkehr gequetscht und schließlich in den eventuell vorhandenen Transferbus umgestiegen, der jedoch auch mal eine Stunde auf sich warten lässt. Sind wir ehrlich, attraktiv ist dieses Angebot aktuell auf den wenigsten großen Festivals. Dazu kommt, dass es im Fall eines Unwetters oft heißt, „Evakuierung, ab in die Autos, nehmt Menschen auf, die ohne angereist sind“. Und dann? Ohne Auto angereist, also mit vier fremden Menschen in einen Viersitzer quetschen.
Benötigt werden neben einer tatsächlich entspannt mit dem ÖPNV machbaren Anreise, also auch sichere und nahe Möglichkeiten, wo man sich im Falle eines Unwetters außerhalb des Zelts aufhalten könnte. Von Turnhalle bis Container gäbe es da sicherlich einige Möglichkeiten.
Festivals sind aktuell vor allem eine verdammt große Müllproduktion. Auf Wacken fallen pro Nase und Jahr fast zwei Kilo Müll an (zdf 2019). Besser macht es da aktuell schon das Futur2 in Hamburg. Hier wurde die Müllmenge dank Mehrweggeschirr drastisch reduziert (auf krasse 26 Gramm pro Person) - und genau das, ein funktionierendes Pfandsystem, ist das Mindeste, was auf einem Festival zukünftig getan werden muss, um Müll zu sparen. Was extrem viel Müll ausmacht, sind kaputte Billig-Pavillons, Zelte, Stühle und ähnliches, die durch ihre mangelnde Qualität kein bisschen Wind aushalten und dann spätestens nach einer Festivalsaison, wenn nicht nach einem Festival, liegen bleiben. Möglichkeiten hier wären vielleicht mietbare, stabile Großraumzelte, die auch vor Ort ggf. schon aufgebaut werden – ein riesiger organisatorischer Aufwand, vor allem auf großen Festivals, aber klimatechnisch sicherlich sinnvoll. Alternativ wären schattige und regengeschützte Aufenthaltsbereiche möglich, sodass Pavillons erst gar nicht mehr gebraucht werden. Am besten und effektivsten ist aber natürlich ein steigendes Umweltbewusstsein der Besuchenden, die sich vor Antritt des Festivals Gedanken machen, ob der Generator wirklich benötigt wird oder ob eine aufgeladene Powerbank nicht auch für das Nötigste reichen könnte.
Neben den Umweltschutzaspekten gibt es aber noch zahlreiche soziale Aspekte, die ein Festival für alle ermöglichen. Manches davon wird auf einigen Festivals schon umgesetzt, manches ist eher aus anderen Bereichen bekannt. Manches ist auch wirklich sehr utopisch bzw. fast unrealistisch. Zentraler Punkt für ein inklusives Festival ist natürlich die Barrierefreiheit, und zwar echte Barrierefreiheit, die über ein rollstuhlgerechtes Dixiklo und eventuell eine Rollstuhltribüne hinausgeht. Barrierefrei heißt nicht nur, dass ein Raum rollstuhlgerecht ist, auch beispielsweise seheingeschränkte, höreingeschränkte oder psychisch kranke Menschen sollen ein Festival erleben können. Mehr zum barrierefreien Feiern findet ihr auch in diesem Artikel von Steffen.
Damit einher gehen Bereiche an den Bühnen, die für Menschen geeignet sind, die keine Lust auf Menschenmengen haben, die diese eventuell auch aus den verschiedensten Gründen überhaupt nicht gut ertragen können oder durch ihre Körpergröße in der regulären Menge vor der Bühne untergehen und nichts von der Show sehen. Offene Tribünen und Lagen am Hang wie am Taubertal würden vielen Menschen sehr viel Belastung auf einem Festival nehmen und erlauben, die Musik zu genießen. Passend dazu: Safe Spaces. Ganze Safe-Space-Festivals, bei denen beispielsweise Alkohol eingeschränkt oder ganz verboten ist, werden für viele Menschen wohl nicht ganz so interessant sein, aber für 2020 war in Düsseldorf eigentlich das „NonToxic“-Festival geplant, Initiativen gibt es also schon. Möglichkeiten, um sich - vor allem als FINTA-Person (Frauen, Inter, Nonbinary, Trans, Agender) auch auf regulären Festivals sicher zu fühlen und keine Angst vor (alkoholisierten) Übergriffen haben zu müssen - wären aber beispielsweise eigens eingerichtete Campingplätze – FINTA-Campingplätze, alkoholfreie Campingplätze, ruhige Campingplätze mit Nachtruhe und Boxenverbot, etc. Auch ein Kriseninterventionsteam oder eine Anlaufstelle bei seelischen Problemen – vergleichbar mit den Erste-Hilfe-Angeboten – wären genial. Die Angebote muss man als reguläre:r Besucher:in ja nicht nutzen, sie würden aber vielen ein besseres Gefühl geben.
Schließlich hat in Zeiten von Corona auch die Hygiene einen höheren Stellenwert erlangt, der auch auf Festivals vermutlich nicht mehr ganz verschwinden wird. Mehr Händewasch- und Desinfektionsmöglichkeiten, Spülklos statt oder ergänzend zu Dixiklos, mehr Duschmöglichkeiten und eine bessere Wasserversorgung würden sicherlich einiges angenehmer gestalten. Auch menstruierende Menschen freuen sich über Spülklos und Duschmöglichkeiten sowie ggf. kostenlose Menstruationsartikel und Schmerzmittel. Viele Menschen, die während eines Festivals ihre Periode bekommen, reisen aktuell leider lieber wieder ab, weil es mit höllischen Schmerzen und unter den aktuellen Hygieneumständen auf den meisten Festivals kaum erträglich ist.
Es gibt also verschiedenste Möglichkeiten, ein Festival angenehmer und erlebbar für alle Menschen zu gestalten, und noch dazu einige Punkte, die der Klimakrise wegen definitiv eingeführt und umgestellt werden müssen. Die Livemusik wird sich erholen und gestärkt aus dieser Krise zurückkommen, aber für ein Gelingen und Bestehen müssen wir alle mit anpacken und eben auch Dinge, an die wir uns über Jahre gewöhnt haben, infrage stellen.
Jannika Hoberg
Jannie begeistert von Punk über Metal bis hin zu Hardcore alles, ob aggressive Beats oder auch mal soft - auch außerhalb dieses Genrespektrums. Neben der Leidenschaft für Konzertfotografie ist Jannie mit verschiedenen Instrumenten für diverse Jamsessions zu haben. Zuhause ist dey auf Konzerten und Festivals, ansonsten studiert Jannie nebenbei noch Umweltingenieurwesen in Weimar.