Hanatarash: Wenn Musik lebensgefährlich wird
18.09.2020 | Jakob Uhlig
Die Einstürzenden Neubauten sind wohl bis heute eines der wichtigsten musikalischen Anvantgarde-Projekte im deutschsprachigen Raum. Bezeichnend, dass die Entstehung einer noch viel gewagteren Band bei einem Konzert der Gruppe um Blixa Bargeld ihren Anfang nahm. 1984 spielen die Neubauten eine Show im japanischen Osaka. Als Stagehands arbeiten dort unter anderem der damals 20-jährige Yamantaka Eye und Mitsuru Tabata, der später auch noch Teil der Noiserock-Band Zeni Geva werden wird. Eye und Tabata gründen nach ihrer ersten Begegnung auf diesem Event zusammen die Gruppe Hanatarashi, die nach dem Release des ersten Albums in Hanatarash umbenannt wird. Schon die Musik des Duos ist extrem. Die Band benutzt für ihren markerschütternden Noise-Sound nicht nur alle möglichen Arten klanglicher Verzerrung, sondern verwenden auch völlig unmusikalische Gegenstände wie Bohrmaschinen für ihren Klang.
Berühmt werden Hanatarash allerdings nicht für ihren Sound, sondern für ihre wahnwitzigen Performances. Eine Konzertlocation in Kyoto musste nach einer Show der Band sogar schließen, weil die Zerstörung zu verheerend war. Es scheint, als suchten Eye und Tabata immer noch nach dem nächsten Kick, um ihr Publikum zu schockieren. Bei einer Show schneidet die Band eine tote Katze mit einer Machete in zwei Hälften. Bei einem anderen Event mieten Hanatarash einen Bulldozer, mit dem sie durch die Rückwand des Clubs brettern und für massive Zerstörung sorgen. Eines Abends befestigt Eye eine Kreissäge an seinem Rücken und verliert fast sein Bein, spielt die Show aber tatsächlich zu Ende.
1985 spielen Hanatarash in Tokio und haben offenbar etwas derartig Riskantes vor, dass das Publikum vorher ein Formular ausfüllen muss, mit dem es sich damit einverstanden erklärt, die Band nicht für eventuelle körperliche Schäden haftbar zu machen. Unterbrochen wird die Show schließlich dennoch, weil Eye kurz davor ist, einen Molotow-Cocktail auf die Bühne zu werfen – ein Abend, der vielleicht symbolisch für das unvermeidbare Folgende steht. Hanatarash dürfen fast nirgends mehr auftreten. Die Gefahr des Publikums und die Reparaturkosten für die Locations sind nicht mehr tragbar. Erst, als Eye in den 90ern verspricht, seine zerstörerischen Performances sein zu lassen, dürfen Hanatarash wieder Konzerte spielen.
Die große Frage hinter dieser verrückten Geschichte ist natürlich diejenige nach dem Warum. Hanatarash sind Teil einer Avantgarde-Bewegung namens „Danger Music“, die darauf abzielt, dass die Aufführenden oder das Publikum bei der Aufführung verletzt werden könnten. So gibt es etwa von dem japanischen Komponisten Takehisa Kosugi ein Werk, dass den Spielenden dazu auffordert, in fünf Jahren eines seiner Augen auszuhebeln und nach fünf weiteren Jahren das selbe mit dem anderen zu tun. Andere Stücke verwenden derart laute Musik, dass die Zuhörenden ernsthaft Gefahr laufen, ihre Hörfähigkeit zu verlieren. Danger Music ist eng verknüpft mit der sogenannten Fluxus-Bewegung – eine Kunstgarde, die dem Entstehungsprozess der Kunst selbst mehr Wert zusprach als dem eigentlichen Endergebnis. In gewissem Sinne liegt der Kunstgedanke der Danger Music also in diesen wahnwitzigen Aktionen begründet – dass über die eigentliche Musik von Hanatarash eigentlich nie gesprochen wird, ist hier ziemlich bezeichnend.
Ist es Kunst wert, dass wir uns für sie in ernsthafte Gefahr begeben, oder im Extremfall sogar unseren eigenen Tod in Kauf nehmen? Können es die Kunstschaffenden selbst verantworten, dass sie ihr Publikum derartigen Risiken aussetzen, obwohl sie kaum davon ausgehen können, dass jeder sich der vollen Tragweite einer solchen Show bewusst ist? Wird Musik wirklich dadurch besser oder intensiver, dass wir sie mit ganz realen Konsequenzen verbinden? Diese Fragen sind nüchtern kaum zu beantworten, aber das Phänomen der Danger Music zeigt, wie weit Menschen für ihr Kunsterleben gehen. Ist diese Kunst die letzte Stufe in einer unaufhaltsamen Spirale, in der nur noch das nächste Extrem für ekstatische Erlebenshöhepunkte sorgen kann? Vielleicht will man darüber gar nicht nachdenken.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.