Merets Jahresrückblick 2020
23.12.2020 | Meret Stursberg
"hoffe alle Fernsehsender sparen sich dieses Jahr die Jahresrückblicke, 2020 ein Mal zu erleben hat mir absolut gereicht" - elhotzo
Dieser Spruch sowie einige andere Memes und Sprüche im Internet lehnen Jahresrückblicke dieses Jahr kategorisch ab und sprechen damit vielen Usern aus der Seele. 2020 kann sich getrost verabschieden und man muss wirklich nicht erneut an die unzähligen Probleme dieses Jahres erinnert werden: Brände in Australien, Trumps Raketenangriff, das nie endende Brexit-Drama, Attentate und so viele weitere Katastrophen. Allen voran die Corona-Pandemie, die auch die Musikindustrie mitten ins Herz getroffen hat - abgesagte Festivals oder Konzerte und Menschen, die in Kunst und Kultur beschäftigt sind, stehen nicht selten vor einem Abgrund. Doch viele Künstler haben andere Wege gefunden, die Musik am Leben zu erhalten und die Musik selbst lässt sich auch nicht von einem Virus ausmerzen. Deshalb hier ein Jahresrückblick, der sich auf ein paar der positiven Seiten dieses Jahres bezieht, zumindest was die Musik angeht!
Album des Jahres
Laurie Wright - "Lockdown Live"
Laurie Wright könnte ich sowohl als Neuentdeckung dieses Jahres als auch als Unter dem Radar vorstellen. Da ich in diesem Artikel unter Anderem versuche, mich auf Künstler zu konzentrieren, die Möglichkeiten gefunden haben, trotz der angespannten Lage Menschen durch Musik zu begeistern, wähle ich Laurie Wright aber zunächst für mein Album des Jahres mit dem "Lockdown Live Album". Der junge Brite war Teil des "RKD Lockdown TV Specials", veranstaltet von den Libertines. Zu diesem später mehr unter "Online Konzert des Jahres". Laurie Wright überzeugt auf diesem Album mit seiner unverwechselbaren, rauchigen Stimme, seinem sympathischen Lachen und dem charmanten britischen Akzent und natürlich seiner rustikalen Akustik-Gitarre. Wie auch ein Bandcamp-User (kipling1978) treffend beschreibt: "World class singer Songwriter Laurie Wright has been the highlight of many people's Lockdown brought us all together thru the love of his music. This lads going straight to the top. Feel privileged to be a part of my Boooooooyyyyyys Journey." ("Weltklasse Singer/Songwriter Laurie Wright war der Höhepunkt vieler Menschen im Lockdown, der uns alle durch die Liebe zu seiner Musik zusammengebracht hat. Dieser Typ geht steil nach oben. Ich fühle mich privilegiert, Teil von der Reise meines Jungen zu sein.") Nun, besser kann ich es auch nicht formulieren.
Neuentdeckung des Jahres
Meine Neuentdeckung 2020 ist, neben Laurie Wright, zu dem ich aber schon etwas geschrieben habe, die kanadische Band Mother Mother. Ein Freund, sozusagen mein Lockdown-Buddy im März, hat sie mir irgendwann im Laufe des Jahres gezeigt und nachdem mir die Zeile: "My daddy's got a gun" aus dem Lied "Hayloft" nicht mehr aus dem Kopf ging, habe ich in die Band reingehört und wurde überzeugt. Nicht nur, dass die Indierock-Band musikalisch vielfältig auftritt, sie greift auch viele gesellschaftlich kritische Themen auf wie zum Beispiel in "I Go Hungry", wo offen das Thema Essstörungen behandelt wird. Zudem gefällt mir die Mischung aus männlicher und weiblicher Stimmlage, die die Band hervorragend einsetzt.
Online-Konzert des Jahres
Über das RKD Lockdown TV Special der Libertines habe ich bereits in einem anderen Artikel, welcher Teil unseres Themenmonats im Dezember war, berichtet. Dennoch möchte ich dies hier noch einmal aufgreifen. Dieser Abend war einfach fantastisch und ich kann nur hervorheben, wie toll es ist, dass im Rahmen dieses Livestreams so vielen bekannten wie unbekannten Künstlern eine Bühne geboten wurde in dieser schwierigen Zeit. Wer gerne mehr über den Ablauf des Abends lesen möchte, kann hier zu dem Artikel gelangen.
Enttäuschung des Jahres
Auch wenn ich nach wie vor großer Front-Bottoms-Fan bin, muss ich sagen, dass mich das neue Album "In Sickness and Flames" nicht vollständig abholen konnte. Das Album ist keinesfalls durchgehend schlecht und grundlegend erkennt man auch noch den typischen Stil der Band durchschimmern. Aber die Platte wirkt auf mich etwas "überproduziert", mir fehlt das Gefühl, das frühere Alben vermittelt haben, als wäre die Musik im Keller des Hauses der Eltern aufgenommen worden. Sie haben im Gesamtkonzept des Werks zu Lasten des hier sehr penetranten Pop-Einflusses einige ihrer nostalgischen Indie-Rock-Emo Vibes eingebüßt. Natürlich entwickeln sich Bands weiter und gehen mit dem Zeitgeist. Jedoch passen die teilweise gepitchten Stimmen nicht zu dem Stil der Band, was auch einige andere Fans bedauern. Auch die Lyrics des Albums kommen nicht mehr an das, was sie einst verkörperten. Zu oft werden simple Zeilen wie Parolen wiederholt, anstatt das Gefühl zu vermitteln, was frühere Songtexte verschafft haben: Diese haben die Hörerschaft rätseln lassen, waren mehrfach zu deuten und dann doch ganz klare Beschreibungen von Situationen, mit denen man sich identifizieren konnte. Das kann das neue Album leider einfach nicht liefern. Die früher so charmanten Jungs von nebenan wirken in diesem Album teilweise etwas aufgesetzt. Ich kann nur hoffen, dass das nicht das Ende des ehemaligen Stils der Band ist, sondern nur eine Art Experiment, wie es natürlich jedem Künstler gestattet ist. Wenn sich die Tendenz dieses Albums allerdings weiter so entwickelt, dann befürchte ich, dass diese einst so individuell herausstechende Band, die mir wirklich das Herz erwärmt, mich mitgerissen und mir aus der Seele gesungen hat, irgendwann nur noch eine von vielen ähnlich klingenden "Pop-Punk-Indie-Rock-Irgendwas-Gewäsch-Bands" sein könnte.
Meret Stursberg
Momentan studiert Meret Philosophie in Düsseldorf und arbeitet ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe, treibt sich aber ansonsten die ganze Zeit auf Konzerten oder Festivals quer durch Deutschland und in anderen Ländern rum. Sie liebt Reisen und lernt auch im Ausland viele interessante Musiker kennen. Ansonsten spielt sie selber mehr schlecht als recht Bass in einer kleinen Punk-Band. Musikalisch kann sie fast jedem Genre etwas abgewinnen und bezeichnet ihre Playlist auch als Büchse der Pandora, weil zwischen Punk, Indie, Rock, Ska, Metal, Trash und Hip Hop manchmal auch einfach klassische Musik oder Kinderserien-Intros anspringen.