Was heißt hier extrem? Extreme Musik im Wandel der Zeit
04.09.2020 | Steffen Schindler
Die Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ (Das Frühlingsopfer) am 29. Mai 1913 in Paris beginnt unter schlechten Vorzeichen: Vom ersten Ton an lachen und buhen die Leute. Als die Tänzer:innen mit merkwürdig stampfenden Bewegungen beginnen, gibt es kein Halten mehr: Das ist kein Ballett, das ist eine Beleidigung! Die Musik geht unter in Pfeifen und Johlen, Schläge werden ausgeteilt und mindestens eine Duellaufforderung ausgesprochen. Am Ende der Aufführung stehen 27 Verletzte, vernichtende Kritiken und einer der größten Theaterskandale aller Zeiten. Heute gilt das Stück durch seinen innovativen Einsatz harmonischer und rhythmischer Mittel als Schlüsselwerk der Musik des 20. Jahrhunderts. Dementsprechend klingt Strawinskys Komposition auch nicht annähernd so ohrensträubend, wie man es aus der Schilderung der Uraufführung erwarten könnte.
An „Le sacre du printemps“ kann das Wesen extremer Musik exemplarisch festgemacht werden: Sie überschreitet die für Musik gesetzten Grenzen inhaltlich wie formell und verschiebt sie damit. Auch in der Geschichte der Pop-Musik findet sich dieses Muster immer wieder: So gilt der Instrumentalsong „Rumble“ von 1958, gespielt von Link Wray durch einen kaputten Verstärker, als die erste Aufnahme, auf der bewusst Verzerrung als Stilmittel eingesetzt wird. Dieser Klang würde Jugend- und Bandengewalt fördern, befürchteten die Radiosender und weigerten sich deshalb, den Song zu spielen. Seiner Bedeutung für spätere, härtere Stile der Gitarrenmusik tat das jedoch keinen Abbruch. Schon wenige Jahre später war die verzerrte Gitarre aus der Rockmusik kaum wegzudenken.
Auch aus der Kunstszene kamen Impulse: Seit 1964 spielten The Velvet Underground Songs über BDSM und Drogensucht - begleitet von Gitarren, deren Saiten alle auf E gestimmt waren und einem Schlagzeug ohne Becken. Diese Themen waren damals absolut tabu und die musikalische Umsetzung völlig neuartig. Trotz der Förderung durch Andy Warhol wurden sie deswegen nie erfolg-, aber dafür sehr einflussreich. Häufig zitiert wird der Ausspruch, dass zwar nicht viele ihre Platten kauften, aber alle, die es taten, anschließend eine Band gründeten.
Ein radikaler Verzicht kann ebenso extrem sein: Punkrock brach Mitte der 70er mit allem, was die Rockmusik zu dieser Zeit ausmachte: Statt aufwendiger Bühnen- und Studioproduktionen gab es kurze Songs mit drei Akkorden. Ursprünglich in der Kunst- und queeren Szene New Yorks entstanden, perfektionierten 1976 vier Jungs aus Queens die Idee auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum „Ramones“ und beeinflussten damit eine Szene in Großbritannien, die vor allem durch die Lust an der Provokation auffiel. Die Ablehnung von Punk durch die Mehrheitsgesellschaft war vor allem durch eine Angst vor einem Sittenverfall geprägt. Die Musikindustrie erkannte jedoch schnell, dass sich damit Geld machen ließ und integrierte Bands wie die Sex Pistols in ihre Marketingmaschinerie. Ein Muster, das sich auch im Metal wiederholte: Während christliche Fundamentalist:innen auf dem Parkplatz die angeblich satanischen Iron Maiden-Platten verbrannten, verkaufte die Band das Stadion aus.
In den 80ern war die Metalszene ein Ort, an dem musikalische Extreme vorangetrieben wurden. Grindcore-Bands wie Napalm Death nahmen vom Punk beeinflusst Songs mit keifendem Gesang und enormer Geschwindigkeit auf. Darunter unter anderem den kürzesten Song aller Zeiten: „You Suffer“ von 1987 ist 1,316 Sekunden lang.
Es entwickelten sich Stile wie Thrash und Death Metal, die für das Radiopublikum wie Krach klangen, in ihrer Szene aber eine enorme Popularität erreichten. Aufgrund dieser Popularität wandten sich einige Szeneangehörige von diesen „untruen“ Stilen ab und entwickelten sie weiter. Insbesondere die norwegische Black-Metal-Szene der 90er erreichte eine gewisse Berühmtheit, aber eher aufgrund von Kirchenbrandstiftungen und (Selbst-)Morden in ihrem Umfeld als wegen der mit einfachsten Mitteln aufgenommen Musik.
Eine andere Entwicklung der 70er und 80er war die Industrial- und Noisemusik. Häufig mit (performance-)künstlerischem Anspruch und mit einem neuen Verständnis von Musik, wurde Ton durch Geräusch ersetzt. Die Musik von Künstlern wie Throbbing Gristle oder Merzbow ist so schwer zugänglich wie sie einflussreich wurde. In den 90ern erlebten diese experimentellen Genres jedoch durch Bands wie Nine Inch Nails und Sonic Youth fast so etwas wie Mainstream-Erfolg.
Minimalismus, Satanismus, Lärm: Ist alles schon mal da gewesen. Einst extreme Stile werden von ihren Szenen gepflegt oder finden sogar in Charts statt. Schockiert heute überhaupt noch etwas?
Dass grenzüberschreitende Musik auch zugänglich sein kann, zeigt zum Beispiel Lil Nas X‘ „Old Town Road“ aus dem letzten Jahr. Der unglaublich erfolgreiche Song, der Country- und Hip-Hop-Elemente kombiniert, wurde aus den offiziellen Country-Charts ausgeschlossen. Damit begann nicht nur eine Debatte um Rassismus in der Country-Szene, sondern es stellte sich auch die Frage, ob die noch aus der Zeit der Rassentrennung stammende, strikte Trennung der Billboard-Charts nach Genres noch zeitgemäß ist.
Die Popgeschichte zeigt: Extreme Musik hat immer versucht, willkürlich gezogene Grenzen zu überwinden. Es scheint so, als seien jetzt die Genregrenzen an der Reihe.
Steffen Schindler
Steffen dankt Nirvana dafür, dass sie die Jugend auf dem Dorf erträglich gemacht haben. Seitdem ist er dem Klang der elektrischen Gitarre verfallen. Mittlerweile studiert er in Berlin Geschichte und Kulturwissenschaft.