Coilguns und “Odd Love”: der Schrei im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
25.11.2024 | Kai Weingärtner
Das letzte Studioalbum von Coilguns erschien im Herbst 2019, kein halbes Jahr bevor der Ausbruch der Coronapandemie weite Teile der Musikindustrie für Monate mehr oder weniger stilllegen sollte. Im Sommer 2020 haben Jona und Louis von Coilguns in unserer Rubrik “Unter dem Radar” über ihre Erfahrungen im Lockdown und die Auswirkungen der Pandemie gesprochen. Damals hegte Songwriter und Gitarrist Jona die Hoffnung, das nächste Album könnte, angesichts der nun in Fülle zur Verfügung stehenden Zeit, “DAS Coilguns-Album” werden. Fünf Jahre hat es nun insgesamt gedauert, bis “Odd Love” erschienen ist. Die Platte ist als Retrospektive auf Coilguns’ Karriere mit und in der Musikindustrie angelegt und zieht diesbezüglich wie für die Band üblich nicht immer das versöhnlichste Fazit. Ob “Odd Love” am Ende das definitive Werk der Schweizer sein wird, soll hier nicht diskutiert werden. Eines ist aber sicher: “Odd Love” hat immer noch alles, was auch die früheren Alben so elektrisierend gemacht hat. Songs wie “We Missed the Parade” knüpfen an, wo “Watchwinders” aufgehört hat. Bedrohlich, chaotisch fetzende Drums mischen sich mit einer Gitarrenstimmung, die sich am ehesten irgendwo zwischen Fernweh und Paranoia einordnen lässt. Und spätestens mit der ersten gesungenen Zeile ist klar: Coilguns sind immernoch Coilguns. Und sie sind immernoch verdammt laut.
Eines der großen Highlights ist auch auf “Odd Love” wieder der Gesang. Bei Louis Jucker hat man das Gefühl, das Schreien ist keine Performance, sondern eine Notwendigkeit. Wo andere mit mühsam antrainierten Growls und theatralen Highnotes flexen, steht bei Coilguns das Gesagte im Vordergrund, und das wird eben manchmal besser von einer brechenden, sich überschlagenden Stimme unterstützt als von makelloser Gesangstechnik. Neben den ekstatischen Kreischmomenten schlägt Louis aber auf Songs wie “The Wind to Wash the Pain” auch ruhigere Töne an. Weder bei diesen, noch bei den lauteren Momenten des Albums steht der Gesang aber exponiert da, sondern ist vielmehr Teil der musikalischen Gesamtstimmung, die Coilguns auf diesem Album besser heraufbeschwören als je zuvor. Und hier kommt das zweite große Highlight ins Spiel. Auf “Odd Love” scheint die Band produktions- und soundtechnisch ihren Weg nun vollends gefunden zu haben. Dieses Album klingt immersiver und an vielen Stellen noch brachialer als die bisherigen Veröffentlichungen. Dadurch geht zwar ein Stück der rohen Urgewalt verloren, die Platten wie “Watchwinders” innewohnte, dafür ist die Atmosphäre hier spürbar dichter.
Wertung
Auch wenn mir persönlich die noch kratzigere Ästhetik von “Watchwinders” etwas besser gefiel als der Sound von “Odd Love”, habe ich auch hier wieder unglaublichen Spaß, den turbulenten Performances von Coilguns zu lauschen und hoffe inständig, dass einer ausgedehnten Touphase für dieses Album diesmal nichts im Wege steht.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.
Das Album scheppert aber richtig!!!