Turbostaat und „Alter Zorn“: Dystopische Herausforderung
22.01.2025 | Frank Diedrichs
Als Mitte Januar 2020 das siebte Album „Uthlande“ veröffentlicht wurde, trieben die ersten Geister der Pandemie bereits ihr Unwesen. Als dann klar wurde, dass keine Konzerte gespielt werden konnten und das Album nicht die Aufmerksamkeit bekommen konnte, die es verdient hatte, war dies der Augenblick, in dem die Band erstmals in ein Loch fiel, gesundheitliche Probleme im näheren Umfeld und der Tod eines engen Freundes der Band verstärkten die Krise, die in Gedanken gipfelte, ob und wie dieses Freundschaftsprojekt namens Turbostaat überhaupt weitergeführt könnte, auch wenn das Album zu diesem Zeitpunkt schon aufgenommen war. Das dieser Gedanke hier im Konjunktiv niedergeschrieben werden kann, verdankt die Band genau dieser Freundschaft: In Kontaktbleiben, Gespräche führen, aufeinander Acht geben und immer wieder Musikideen austauschen. Diese Musikideen führten die Band im Mai 2024 ins Studio. Knapp acht Monate später kommt nun „Alter Zorn“ auf den Plattenteller und mit dem ersten Durchlauf merkt mensch den Texten und der Musik an, dass sich viel Zorn aufgestaut haben muss. Texter Marten Ebsen schafft es wieder mal verklausulierte Botschaften mit einer Klarheit zu formulieren, die die Hörenden immer wieder mit neuen Interpretationsmöglichkeiten ratlos zurücklassen.
Einige Songtitel erscheinen erneut willkürlich. Der Interpretationsspielraum ist scheinbar groß und wie immer von der Band gewollt. Genauso sind dies alles nur Interpretationen des Schreibenden dieser Zeilen. Ist „Affenstraße“ ein Synonym für das dumpfe Marschieren mit den Affen der Gesellschaft und der Erkenntnis, in diesem Strom „ein Ast [zu sein], den man abbricht und verrotten lässt“? Auch „Scheißauge“ mag so gar nicht zu den Lyrics passen, bringt aber mit der Textzeile „Es gab für alles einen Grund und auch schon immer 50 Wörter für grau und fahl“ den Gedanken hervor, dass jede ausgemalte Dystopie für viele schon seit Zeiten bittere Realität ist. Wenn die Zimmer klamm sind und feuchte Winterkälte sich ihren Weg in die scheinbar sicheren Mauern des Zuhauses bahnt, dann ist der Nährboden für „Nachtschimmel“ ideal. Wer der Nachtschimmel ist, wird nicht deutlich: Vielleicht ein misogyner Mensch, der sich wie die Kälte ins Herz geschlichen hat, einen im „Würgegriff“ hatte, aber trotzdem fehlt. Wer sich die Zeit nimmt und Songtitel und Textpassagen im Internet recherchiert, stößt bei anderen Songs plötzlich auf Hintergründe und scheinbare Interpretationshilfen. „Mutlu“ ist ein Vorname, der „glücklicher Mensch“ bedeutet. Diese Bedeutung steht aber im völligen Gegensatz zu den Lyrics. Die Traumsequenzen in diesem Text sind eher Gewaltfantasien. Hier handelt kein glücklicher Mensch, eher einer, der es fast geworden wäre, denn „es [wär] fast um ihn geschehen“, aber seine innere Kälte verhindert dies. Sehr verwirrend sind die Zusammenhänge in „Winograd“. Könnte sich der Titel auf Terry Winograd, ein US-amerikanischer Informatiker, beziehen, der eine Alternative zum Turing-Test entwickelte? Die Erwähnung Turings im Song lässt diesen Schluss durchaus zu, da ihn seine Theorien zum Urvater der Künstlichen Intelligenz machen. Als Nationalheld gefeiert, wurde aber jahrelang verschwiegen, dass Turing ein diskriminierter Mensch war, der aufgrund seiner Homosexualität zu einer Hormonbehandlung gezwungen wurde und viel psychisches Leid erfuhr, er musste viele „Bomben auf [s]ein Herz“ ertragen. All dies Leid führte letztlich in den Suizid.
Das plattdeutsche Sprichwort „Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigall“ findet sich im „Songtitel „Den annern sin Uhl“ wieder. In der Bedeutung „jedem das seine“ ist dies aber schon schwer, es auf die Lyrics zu übertragen, die mit geografischen Bezeichnungen wie „Bandar“ (verarmte Region in Indonesien), „Hindostan“ (früherer gebräuchlicher Name für Indien ) und „Zossen“ (brandenburgische Stadt, in der das Geheime Oberkommando der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg seinen Sitz hatte). Deutlich wird nur, dass es um die Unmenschlichkeiten des Krieges geht. „Otto muss fallen!“ bezieht sich auf eine Demo gegen das Bismarck-Denkmal in Hamburg, wobei die Lyrics eher Missstände der Kirche, der Justiz und des Kapitalismus anprangern könnten.
Da sind die Aussagen in „Subraum“ (Vereinsamung in alten Kneipen) oder in „Isolation“ (Obdachlosigkeit in Städten) fassbarer formuliert. Der titelgebende Track „Alter Zorn“ zeigt durch sein Am-Ende-Sein („es geht nichts mehr“), ohne aufgeben zu dürfen („doch gar nichts ist vorbei“), dass nichts in Ordnung ist. Am Ende des Albums ist es der Tod, das Trauern, welches aufgegriffen wird. „Jedermannsend“ kennzeichnet nichts anderes als den Weg, den jeder Mensch nehmen wird, den in den Tod, nur die Hinterbliebenen oder auch Übriggebliebenen trauern auf ihre Weise. Die Zeile „Nur ein Schiss im Meer, doch es schwimmt hinter dir her“ gibt einen Hinweis auf die Bedeutung des Titels „Jedermannsend“. Abgewandelt von dem seemännischen Allemannsend, ist dies ein zerfasertes Tau, welches im Salzwasser hing und als Klopapierersatz benutzt wurde.
Auch wenn das Album von Turbostaat textlich wesentlich urbaner erscheint, sind genau diese Verweise wie in „Jedermannsend“ oder in „33 Tage“ („Und wenn du nicht zur Arbeit gehst, dann starrst du auf das Meer“), die aufzeigen, dass in Husum und an der Nordsee ihre Wurzeln liegen. Insgesamt sind die Texte sehr dystopisch, wobei diese Dystopien nicht in der fernen Zukunft liegen, sondern im Hier und Jetzt angekommen sind. Wo bleibt da die Hoffnung, wenn selbst Sound und Gesang, diese nicht vermitteln wollen?
Die Texte Marten Ebsens trägt Sänger Jan Windmeier gewohnt rau und ungeschliffen vor. Er bedient sich einer emotionalisierten Energie, die von Melancholie bis Aggressivität reicht, und Wirkung der Lieder noch verstärken. Es ist ein Faszinosum, dass Jan die Texte, obwohl nicht von ihm geschrieben, mit dieser Intensität vermitteln kann. Ein klares Zeichen für das Verbundensein als Menschen und die Zusammenarbeit als Band.
Der Sound des Albums ist Turbostaat-typisch ein Zusammenspiel aus roher Energie und Melodik. Die Gitarren von Marten Ebsen und Rollo Santos sind verzerrt. Ihre Dissonanz erzeugt den typischen Post Punk-Sound der Band („Subraum“, „Alter Zorn“). Ausbalanciert wird der Sound durch melodische Elemente wie in „Nachtschimmel“. An den Drums hält sich Peter Carstens je nach Stimmung der Songs zurück. Während sie in „Isolation“ kaum wahrgenommen werden, im Hintergrund den Takt vorgeben, verleihen sie beispielsweise in „Otto muss fallen“ dem Song den nötigen Druck. Durch die eingesetzten Bass-Lines von Tobert Knopp entsteht in der Gesamtheit eine düstere, dystopische Atmosphäre, die sich den Lyrics anpasst.
Am Ende ein Wort zum Cover. Ein junger Moses Schneider steht vor einer Bandmaschine in den Hansa-Studios in Berlin. Das Foto ein Zufallsfund, das Lachen steht dem Albumtitel diametral gegenüber. Aber es ist das sechste Album, welches Moses Schneider mit der Band produzierte. Und er hat wesentlichen Anteil daran, dass die Band aus dem Loch der vergangenen Jahre herausgekommen ist und ihren alten Zorn in dieses Album kreativ hineintragen konnten.
Wertung
Turbostaat melden sich nach fünf Jahren mit einem atmosphärisch-düsteren Album zurück. Während ich mir bei der Interpretation der Lyrics immer wieder den Kopf zermartert habe, war dieser typische dissonante Postpunk-Sound so einnehmend wie immer. Scheinbar hat der alte, aufgestaute Zorn der vergangenen Jahre, hervorgerufen durch Pandemie und den gesamten Scheiß, der noch dazu kam, herausgemusst. Mich hat das Album sofort gepackt, nicht nur wegen des gewohnt unkonventionellen Gesangs, sondern auch weil Gitarren, Bass und Drums einen in die Songs hineinziehen und nicht mehr loslassen.
Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.