Alligatoah und „Schlaftabletten, Rotwein V“: Rap braucht wieder einen Märchenerzähler
15.09.2018 | Julius Krämer
Je unpersönlicher, desto unantastbarer ist man als Künstler auch. Das wussten bereits die Ärzte, die zu ihrer Anfangszeit mit ihrem kruden Humor um Inzest und Zoophilie auf dem Index landeten. Eine ironische Wendung, dass gerade im (deutschsprachigen) Hip-Hop, wo Realness und Authentizität doch unabhängig von der Strömung und sei es jetzt Fler, Casper oder Trettmann, eine große Rolle spielt, diese geradezu autobiographischen Zustände seit einigen Jahren ins genaue Gegenteil verkehrt: Schauspielrap ist das Genre der Wahl für Alligatoah, und das brachte ihn vor fünf Jahren mit „Willst Du“ aus seinem dritten Album „Triebwerke“ nicht nur auf die iPods der Gymnasien und Mainstream-Clubs des Landes, sondern auch auf Platz eins der Charts. Die immer vorhandene, aber immer nur als Lückenfüller verwendete Mixtape-Reihe „Schlaftabletten Rotwein“ erlangt mit ihrer fünften Ausgabe nun auch das Label eines richtigen Albums – nur, dass offiziell kein roter Faden vorhanden sein soll. Ob das mal so stimmt.
Wie bei jeder Alligatoah-Platte ist man beim ersten Hören erschlagen von der Wucht einer derartigen Kreativität. Lukas Strobel packt in eine Strophe mehr Wortwitz und Dreifachdeutigkeit als viele Rapper auf ganzen Alben. Zeilen wie „Es ist nie zu spät für pubertären Mitleidsdrang/Ich fang mit 70 mit dem Ritzen an“ („Ein Problem mit Alkohol“), oder „Wenn die Bremsen versagen/Hagelt es Spenderorgane/Kopf hoch“ („Alli-Alligaotah“) irritieren ob so viel Geschmacklosigkeit, aber nichtsdestoweniger auch mit ihrem Einfallsreichtum. Dabei schlüpft der 29-jährige in jedem Song in eine andere Rolle: „Freie Liebe“ erzählt aus der Sicht des polyamurösen Hippies, in „Wo kann man das kaufen“ spielt er einen konsumgeilen Teenager und „Meine Hoe“ führt moderne, feministische Emanzipation auf die Spitze. Keiner dieser Songs vergeht ohne maßlose Übertreibung und den lächerlich satirischen Fingerzeig, der manchmal nicht nur verstörend, sondern auch fragwürdig daherkommt – etwa, wenn er in „Meinungsfrei“ die politische Botschaft von Rechtsrock auf die Parole „Heimat!“ verharmlost. Guten Willen beweist dafür „Füttern verboten“, das mit einem cleveren Beat aus Natursamples metaphorisch wasserdicht gegen Nazis, Politiker und den Kapitalismus schießt und den temporären Status, Flüchtlinge medial als Problem Nummer Eins darzustellen, anstatt wirklich Menschen zu helfen, bitterböse karikiert: „Komm an den Zaun, wo die Flüchtlinge wohnen/Fotos erlaubt, aber füttern verboten“.
Dazu kommt die Geschwindigkeit des Vortrags, der einem beim Nachdenken über die letzte Zeile schon über die Nächste schmunzeln lässt. Auf die Dauer wirkt allerdings auch dieser, in seiner Disziplin meisterhafte Gag-Marathon, unheimlich ermüdend. Man muss die überzogene Art Alligatoahs wirklich mögen, damit einen die Reizüberflutung seiner Wortspiele auf kurz oder lang nicht verstört zurücklässt: „Hier eine Liste von Dingen, die ich lieber machen würde, als auf deinem Geburtstag zu singen/Ein Flussbad in Indien/Meine Brusthaare trimmen/In einen Schmuckladen pinkeln, aus Fruchtblasen trinken/Nach Cuxhaven schwimmen/mich wie Puffdamen schminken/Und in rustikalen Pinten einen Busfahrer rimmen“ („Alli-Alligatoah“). Das kommt ihm dann auch etwas in die Quere, wenn er sich ausnahmsweise nicht nur dem gehobenen Quatsch hingibt, sondern wie im Dreiteiler „Die grüne Regenrinne“ eine narrative Struktur verfolgt. Das Konzept der drei aufeinander aufbauenden Songs mit Episodencharakter war sonst stets seinen „richtigen“ Alben vorbehalten gewesen, ein weiteres Merkmal gegen die Geringschätzung von „Schlaftabletten, Rotwein V“ als Mixtape. „Die grüne Regenrinne“ jedenfalls erzählt die Geschichte eines Detektivs auf der Suche nach der Lösung für einen Mordfall und besticht durch abgebrühte, auditive Film-Noir-Ästhetik. Ob man der Geschichte beim Dauerbeschuss von Zweckreimketten wirklich folgen kann, ist fraglich: „Krümelteechen trinke - kühne Gegenstimme - Küchenschere drinne - grüne Regenrinne“, „Feinstaubatmend – Weihrauchschwaden – Reihenhauspark - Einkaufswagen - Beinsaum nagten - Schleimhaut-fadenziehende Scheißhausmaden – Beweisaufnahme“. Alle Achtung, aber - puh.
Das Soundbild von „Schlaftabletten, Rotwein V“ ist dabei so vielseitig wie auch überfordernd. Alligatoah hält die musikalischen Stricke in der Hand und biedert sich angenehmerweise nicht an den alles beherrschenden Trap an – auch wenn das bestimmt zu dem ein oder anderen guten Song geführt hätte. Seine Instrumentals werden dominiert von Drums mit Dubstep-Charakter, unbeholfenen Gitarrensounds („Hass“) und stark überbordender, leider viel zu komprimierten Arrangements. Ein nettes Gegenbeispiel dafür liefert der Künstler zum Abschluss der Platte mit „Wie zuhause“, das in allen Belangen die anderen 15 Songs in den Schatten stellt. Melodiös eingängig schlägt der Sechsminüter musikalisch immer wieder einen neuen Haken und erinnert in seiner fragmentarischen Ausführung an den Größenwahnsinn Kanye Wests. Dazu kommt ein ironischer, aber auf den zweiten Blick reflektierter und verletzlicher Blick auf die Orientierungslosigkeit der aktuellen Jugend, die ihren tieferen Sinn in Reisen nach Zentralasien suchen und doch nur vor ihren eigenen Ängsten und Sorgen weglaufen: „Ich reise dieser Erde in den Schoß/Doch ich werde mich nicht los/Alle meine Fehler im Gepäck“.
Wertung
Wenig überraschend, dafür umso überzeugender präsentiert sich Alligatoah als Grenzgänger, Ausnahmeerscheinung im Deutschrap Meister der Ironie und Wortspiele, wobei „Schlaftabletten, Rotwein V“ manchmal leider an seiner eigenen Größe zu scheitern droht. Ob der kunterbunte Brei aus Übertreibungen, Zweckreimketten und Rollenspielen auch emotional zu überzeugen weiß, bleibt fraglich – technisch und lyrisch macht diesem Album aber aktuell wenig Konkurrenz.
Julius Krämer
Julius stammt aus dem hoffnungslos unterschätzten Wuppertal und studiert momentan Musikpädagogik und Politikwissenschaft in Münster. Neben seiner Tätigkeit als Gitarrist in verschiedenen Bands begeistert ihn alles von Prog über Alternative bis Hardcore, er unternimmt aber auch gerne Ausfüge in HipHop, Jazz oder elektronische Musik und mag dabei besonders die Verarbeitung übergeordneter Gedankengänge oder des Zeitgeschehens in der Musik.