Bilderbuch und "Vernissage My Heart": Nach der Postmoderne
20.02.2019 | Julius Krämer
"Komm vorbei in meinem Bungalow/Ich hab Snacks für die Late-Night-Show/Mama kocht für alle/Mama kocht für mich und dich". Wohl wenige deutsche Zeilen wurden 2016 so oft lauthals mitgesungen: mit dem Autoradio, der Bluetooth-Box der Studierendenparty, dem Soundsystem der städtischen Clubs. "Magic Life" und der Über-Hit "Bungalow" fräste sich mit seinen unverschämt eingängigen Melodien, dem entspannten Arrangement und den sanft kapitalismuskritischen Lyrics tief in das popmusikalische Gedächtnis der jungen Generation ein – und zelebrierte, wie schon der Vorgänger "Schick Schock", die Kombination von zeitgemäßem Future-Pop und der für viele leicht antiquierten Institution Gitarrensolo. Bilderbuch schwebten auf einer Welle aus "Sneakers4Free".
Grundsätzlich hätten sich die Österreicher alles erlauben können. Mit ihren Dada-Lyrics, dem unwiderstehlichen Wiener Charme und einem nicht zu verachtenden künstlerischen Progressivismus lagen ihnen Kritiker und Fans zu Füßen. Was sich auf "Magic Life" jedoch schon angebahnt hatte, äußerte sich auf dem ersten von zwei angekündigten Alben Ende 2018 unmissverständlich: Die Abkehr von den großen Hits und die Negierung der Pop-Standards, die sie einst so verehrt hatten. Kurz: der Fortschritt der Eingängigkeit - zumindest in der Wahrnehmung der Band.
In großen Teilen der Öffentlichkeit wurde ihr Album "Mea Culpa" nämlich eher mit Stirnrunzeln als Euphorie aufgenommen. Zu repetitiv die Songstrukturen, zu wenig anbiedernd die Melodien, zu kryptisch die Texte von Maurice Ernst, zu avantgardistisch die Gitarrensolos von Mizzy Blue. Bilderbuch haben das Kunststück geschafft, ihre Hörerschaft durch Eintönigkeit und Progressivität gleichermaßen zu verunsichern. Die Resonanz fiel durchwachsen aus – dem Quartett war das wohl herzlich egal, bewegten sie sich doch längst auf einem anderen, postmodernen Level ihres Future-Pops. Alle Augen also auf "Vernissage My Heart" – ein Album voller Hits als Kontrast?
Ein zweites "Bungalow" sucht man hier vergebens. Stattdessen acht angenehm zurückhaltende Songs, weniger anstrengend als noch auf "Mea culpa" und doch mit mehr musikalischer Substanz. Leicht macht es einem "Vernissage My Heart" dennoch bei weitem nicht: "Kids im Park" eröffnet mit charakteristischen Solo-Sound von Gitarrist Mizzy Blue, der es wie kein zweiter versteht, sein Instrument mit spröder Verzerrung, Autotune und reichlich digitaler Effekte wie einen billigen Synthesizer klingen zu lassen. Dicke Bässe, ein schleppendes Schlagzeug und Lyrics von hedonistischen Fieberträumen ("Wir wollen fliegen im Superspeed Spaceship") bis hin zu nachdenklicher Melancholie ("Ich war zu lang wo ein tiefes Loch ist/Zu viel süße Luft hat mein Herz vergiftet") machen eindeutig klar: Wer nur die nächste extrovertierte Hookline erwartet, wird dieses Album nicht verstehen. Lässt man sich jedoch auf die Zwischentöne ein, auf die leisen Fehler, die zurückhaltenden Melodiebögen, die immer noch und mehr denn je absolut einzigartigen Arrangements aus Mumble-Gesang, R'n'B-Schlagzeug und Gitarrengewitter, dem wird dieses Album viel geben.
"Ich hab Gefühle" entwickelt sich mit entspanntem Beat und Trap-HiHats in den Refrain, der klassischen Bilderbuch-Vibe versprüht: "Manchmal da fühl ich diese Welt, sie braucht mich/Die meiste Zeit, da fühl ich überhaupt nichts." Abseits von metrosexuellem Poser-Gehabe äußerten sich in den Texten von Maurice Ernst seit jeher nachdenkliche Untertöne bis hin zu missverstandener Verletzlichkeit, die sich hier in dem wiederholten Ausspruch "Ich hab Gefühle" und dem anschließenden, sanften Soul-Piano-Outro äußern. Fängt man einmal an, die komplizierte Sprache der Wiener zu verstehen, eröffnen sich bei fast jedem Song mehrere Böden unter ihrem fiebrigen Future-Pop. "Europa 22" etwa kritisiert trotz süßlichem 80s-Vibe die zunehmende Politikverdrossenheit, die dem offenen Schengen-Raum immer gefährlicher wird: "Ein Leben ohne Grenzen/Eine Freedom zum Verschenken/Eine Freiheit, nicht zu denken". Derart plakativ stricken Bilderbuch ihre Ambitionen jedoch selten, und fast schon einschläfernd gleichförmigen Songs wie "Frisbee" wirken dennoch als ein etwas zu radikaler Gegenpol, der den schwierigen Weg von "Mea Culpa" fortführt.
Wertung
Die 35 Minuten "Vernissage My Heart" verlangen der Pop-Hörerschaft viel ab, aber nur diese hat die Möglichkeit, dieses Werk zu verstehen. Von Über-Hits bis missverstandener Future-Pop haben die Wiener bereits alles durchgespielt und vereinen daher ihre Charakteristika aus zurückhaltendem Synthie-Vibes, doppelbödigen Dada-Texten und spröden Gitarrensolos in einem Album, das trotz fehlender Singles wie ein Querschnitt ihrer vergangenen Jahre wirkt.
Julius Krämer
Julius stammt aus dem hoffnungslos unterschätzten Wuppertal und studiert momentan Musikpädagogik und Politikwissenschaft in Münster. Neben seiner Tätigkeit als Gitarrist in verschiedenen Bands begeistert ihn alles von Prog über Alternative bis Hardcore, er unternimmt aber auch gerne Ausfüge in HipHop, Jazz oder elektronische Musik und mag dabei besonders die Verarbeitung übergeordneter Gedankengänge oder des Zeitgeschehens in der Musik.