Fjørt und „Nichts“: Alles endet, aber nie die Musik
14.11.2022 | Jakob Uhlig
Es gibt wirklich wenige Bands aus der Welt der deutschen alternativen Gitarrenmusik, die über lange Strecken so kompromisslos geliebt wurden wie Fjørt. Fast zehn Jahre ist es mittlerweile her, dass das Debütalbum des Trios aus Aachen die gesamte Post-Hardcoreszene des Landes mit dem sanftesten Erdbeben überhaupt erschüttern sollte. Poetische, schwermütige Texte paarten sich mit breit-zerbrechlichen Arrangements, die Hardcore so vorher noch nie gekannt hatte. Spätestens seit dem Zweitling „Kontakt“ hatte diese völlig neue Art eines musikalischen Selbstverständnisses innerhalb der Szene auch zahlreiche andere Akteure zur Imitation angeregt. Fjørt gehörte eine ganze Welt, auch und besonders dann noch, als der dritte Akt „Couleur“ den Sound endgültig zu festigen schien. Das klangliche Epos war im sonst so trockenen Hardcore salonfähig geworden. Lyrische Kunst hatte Platz, auch in harter Gitarrenmusik zum Ausdruck zu kommen. Die Verletzlichkeit des so gar nicht mehr unkaputtbaren Mannes hatte endlich ihr klangliches Äquivalent gefunden.
Fünf Jahre ist „Couleur“ mittlerweile alt und der Wind in der Szene hat sich etwas gedreht. Sperling waren die letzten, die Anfang 2021 noch einmal eine markante Veröffentlichung mit diesem epochalen Sound wagten, demonstrierten durch dessen Kombination mit Rap-Vocals aber gleichzeitig auch, dass die Zukunft im Weiterdenken lag – vielleicht auch, weil die einstigen Vertreter dieses Sounds mittlerweile wieder eine neue Trockenheit anstrebten. Kaputt von allem artifiziellen Kummer und den Mechanismen einer Turbogesellschaft veröffentlichten Heisskalt so etwa 2018 ihren störrischen Kontrapunkt „Idylle“, der seiner Frustration über manische Monotonie Ausdruck verlieh. Nicht zufällig gehen wohl auch die neuen, von Mathias Bloech produzierten Kind-Kaputt-Songs in eine ähnliche Richtung – direkt, krachend, aber manchmal eben auch ironisch gebrochen. Das Bild, das die einst so vielen von Fjørt inspirierten Bands mittlerweile durch einen neuen Sound von der Gesellschaft zeichnen, ist das eines unendlichen Frusts. Was bringt all die Zartheit, was bringen all die romantisch aufkochenden Emotionswellen, was bringt das Brechen aller Wut mit ehrlicher Empathie, wenn die Menschen am Ende doch wieder Björn Höcke in den Landtag wählen?
Fjørt sehen sich mit ihrem vierten Album – der ersten Platte seit einem halben Jahrzehnt – mit einer neuen Realität konfrontiert, in der sie die Fäden der Szene mit einem Mal nicht mehr ziehen, sondern vom eigenen Zeitgeist überholt wurden. „Nichts“ muss sich der schweren Herausforderung stellen, eine Antwort auf diese Welt zu finden. Fjørts vierte Langspielerplatte ist deswegen ein Album des Hinterfragens geworden. „Nichts hat mehr Bestand“ heißt es so martialisch im Closer „Lod“ – ein Wahlspruch, der bezeichnend für alles steht, was die Menschheit gerade erlebt, aber auch für das, was Fjørt auf ihrer neuen Platte an Konsequenzen für ihre Musik daraus ziehen. Mit Nüchternheit hat die Antwort indes wenig zu tun – im Gegenteil hat die Band wohl das klanglich mächtigste Album ihrer gesamten Karriere geschrieben. Einen maßgeblichen Anteil daran hat die unglaubliche Produktion, die jeden der Vorgänger meterweit in den Schatten stellt. Beray Habip, seines Zeichens Schlagzeuger bei Kochkraft durch KMA und Produzent von Sperling, spricht eine Sprache der Überwältigung. Jeder Tieftöner wummert in maximaler Wucht, Trommelschläge klingen zeitweise wie aus einer Filmproduktion und jeder wütende Ausbruch hat eine Extraportion Dreck spendiert bekommen.
Auf dem Papier könnte dieser Ansatz auch das Ergebnis eines furchtbaren Versuchs von Substanzverblendung sein – man könnte gar fürchten einen Blockbuster à la Architects serviert zu bekommen, der mit filmreifem Hochglanzkrach eigentlich nur das dahinterliegende B-Movie zu verschleiern versucht. Aber „Nichts“ gelingt mit seiner kraftvollen Soundgrundlage vor allem deswegen so ein überwältigendes Erlebnis, weil Fjørt es noch nie fertigbrachten, ein derartig organisches Werk zu schaffen. Jede einzelne Komponente fühlt sich am richtigen Platz an, kein Element wirkt aus dem Rahmen gefallen, alles hat seine Wichtigkeit und fügt sich in eine übergreifende Dramaturgie ein. Das fällt schon im überragenden Opener und Titeltrack auf, der mit über sechs Minuten Spieldauer den längsten Fjørt-Track aller Zeiten darstellt und seine Länge auch nutzt, um eine übergreifende Emotionskurve auf- und abschwellen zu lassen. Die offensiven Kontraste der Vorgänger sind vorbei, jeder Track fließt wie in einer Welle in seine Hoch- und Tiefpunkte. Wenn Chris Hell so schließlich mit großer Geste die rahmenden Worte „Nichts nimmt dich in Kauf / Nichts ist was du brauchst“ intoniert, wirkt alles noch viel erschlagender, weil die Klangmasse einen nicht überfällt, sondern einen händereichend abholt.
Diese ungeahnte neue Fähigkeit für klangliche Weitsicht zeigt sich über den gesamten Verlauf der Platte. Wenn etwa Elemente in den Kompositionen auftauchen, die abseits der üblichen Gitarre-Bass-Schlagzeug-Trias liegen, dann klingt das mit einem Mal viel weniger nach Gimmick und viel mehr nach dramaturgischer Notwendigkeit. Man erinnere sich etwa an die herausstechende Sample-Melodik des „Couleur“-Songs „Eden“, die in den für sie bestimmten Momenten für ein Aha-Erlebnis sorgte, aber eigentlich nicht das Gefühl aufkommen ließ, dass der Song auch ohne sie funktionieren würde. Wieder setzt der Opener von „Nichts“ hier das Paradebeispiel dafür, wie es anders geht: Wenn nach dem finalen Sturm des Tracks ein knorriges Klavier mit seinen letzten Akkorden erklingt, dann ist es nicht einfach nur zum Selbstzweck da, sondern kommentiert mahnend den Sturm des Vorangegangenen. Diese Sinnhaftigkeit jeder einzelnen Komponente zeichnet Fjørts viertes Album im Besonderen aus. Die Vokalpaletten wurden etwa deutlich erweitert. „Kolt“ zum Beispiel klingt im Sprechgesangspart fast mehr nach Kafvka, was gerade im Kontext der textlich frustriert dargelegten Selbstkritik einer linksbürgerlichen Wohlfühlblase passend erscheint. In „Salz“ schließen Fjørt schließlich mit dem markerschütterndsten Schrei, den sie je vollbracht haben – in der Produktion gefühlt vertausendfacht, unterlegt von einem messerscharfen Instrumental und dem Thomas-Gray-Zitat „Ignorance is Bliss“. Die unbändige Angst, die in dieser Vertonung steckt, scheint die Worte umso wahrer zu machen.
In den Texten von „Nichts“ kommt es so schließlich auch zum deutlichsten Zeichen dafür, dass die vielen erschütternden Gesellschaftsereignisse der letzten fünf Jahre auch an Fjørt nicht spurlos vorübergezogen sind. Mit der typischen lyrischen Stilistik der Band, die auf vergangenen Platten manchmal durchaus an den Rand der Schwülstigkeit gelangt war, wird auf ihrem vierten Langspieler geradezu demonstrativ gebrochen. Anti-Nazi-Songs, in denen sich das Trio noch zu halbeleganten Metaphern wie „1933 Gründe schwarz zu sehen“ genötigt sah, wird man auf „Nichts“ nirgends finden. Stattdessen heißt es in einem Anfall an Selbstfrustration in „Kolt“ dann auf unverblümteste Weise einfach nur „Fick dich, David!“ Es sind diese Momente des Brechens mit aller kunstvollen Verblümtheit, die eine quälende Ambivalenz dieser Platte offenbaren: Während der Sound selbst immer gigantischer wird und jede Note auf Überwältigung pocht, ist die Quelle für diese Emotion das Gefühl einer Lebenswelt purer Hilflosigkeit, in der der Kontrollverlust des Einzelnen immer spürbarer wird. Nur selten brechen Fjørt mit diesem überbordenden Mittel der Furcht und Verzweiflung, ganz besonders in „Lakk“, dessen Kapitalismus-Karikatur mit einer ernsthaft so vorkommenden Zeile wie „La la leg dich gehackt ey“ und einer an Kranführer Ronny erinnernden Spoken-Word-Einlage aber eher unpassend wirkt. Viel besser bringt das Gefühl dieses Albums im selben Song eine einsetzende Kinderstimme auf den Punkt, der voller Unschuld eine Zeile wie „Denn mehr zu haben bedeutet mehr zu sein“ über die Lippen läuft. Es ist die Systeminhärenz, die alle Probleme auf „Nichts“ so furchtvoll macht und in der auch alle Hoffnungen auf die Nachfolgegenerationen ausweglos erscheinen, wenn sogar die lautesten Linken im Auge des Sturms keinen Ausweg finden.
Wo also steht „Nichts“ im Jahr 2022? Fjørts vierte Platte ist die Folge einer Realität, in der alle Akzeptanz eines verletzlichen Individuums, alles Berufen auf das Gute und alle Hoffnung auf einen Arm in Arm als Mauer vereinten Widerstand nicht geholfen haben. „Nichts“ ist die schreckliche Akzeptanz der Realität, in der Wissenschaftler:innen das 1,5-Grad-Ziel für nicht mehr erreichbar halten, in der nach so vielen Jahren des Kampfes gegen den wiedererstarkten Rechtspopulismus eine Frau wie Giorgia Meloni Ministerpräsidentin von Italien wird, in der auch die Grünen in Regierungsverantwortung nicht für die notwendige Wendung sorgen, in der Tomatensuppen auf verglasten Van-Gogh-Bildern empörender sind als der dahinterstehende Beweggrund, in der Menschen aus Herrschaftssüchten blutrünstige Kriege anfangen und in der selbst die radikalste Revolution mittlerweile wohl zu spät käme. Anstatt wie viele ihrer Zeitgenossen aber nur noch mit Zynismus, Trockenheit und musikalischer Ablehnungshaltung zu reagieren, ertrinkt „Nichts“ förmlich in dieser Emotionsgewalt aus Verzweiflung, Wut, Frustration, Selbsthass und Ausweglosigkeit. Der Closer „Lod“, der mit seinem bahnbrechenden Bombast das schon denkwürdige Finale „Karat“ seines Vorgängers im Vergleich wie einen Kindergarten erscheinen lässt, lässt textlich eher eine Kommentierung von religiösem Fundamentalismus vermuten, streift im Vorbeigehen aber eine Zeile, die die aussichtslose Gegenwart schmerzlich treffender kaum resümieren könnte: „Nur der Tod ist geheuer.“ Offenbar ist es aber zumindest noch die Musik, die in dieser Welt ihre Fähigkeit des Haltgebens nicht eingebüßt hat.
Wertung
So viele Fragen, so wenig Antworten. Aber 50 Minuten, die Kunstgenuss und -leiden auf höchstem Niveau als letztmöglichen Umgangston präsentieren. Eine Platte, die gebraucht werden wird.
Wertung
Irgendwann muss die Luft doch bei jeder Band mal raus sein, oder? Nun, Fjørt sind davon jedenfalls ziemlich weit entfernt und lassen mich verwundert zurück, allein darüber, wie sie es immer wieder schaffen, so eine Begeisterung in mir zu wecken. Auf „Nichts“ beeindruckt das Trio erneut mit Härte, Poetik, Emotionen, einer gehörigen Portion Schreierei und Selbstkritik. „Nichts“ ist ein Album des Jahres, nein, des Jahrzehnts. In dem Sinne: Krach, Lärm, Rotz, Dampf, Nichts hat mehr Bestand.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.