The Hirsch Effekt und “Urian”: Mesospektive
02.10.2023 | Kai Weingärtner
Namen sind nur Schall und Rauch. Im Falle von The Hirsch Effekt lohnt es sich meist aber trotzdem, sich kurz Zeit zu nehmen für die auf den ersten Blick undurchsichtigen Song- und Albumtitel. “Urian” ist beispielsweise eine abwertende Bezeichnung für einen ungebetenen Gast. Verdreht man diese Bedeutung nur ein kleines bisschen in Richtung eines unangekündigten Besuchs, lässt sich daraus hervorragend eine Einleitung zu einer Rezension von “Urian” bauen. Die letzten drei Veröffentlichungen der Band, “Kollaps” und die beiden EPs “Gregær” und “Solitær”, waren geprägt von stringenten Konzepten. “Kollaps” war ein wütendes Wehklagen über die Klimakrise, das generelle Unverständnis für ihre Folgen und die kollektive Ignoranz ganzer Bevölkerungsschichten ihr gegenüber. Inhaltlich fokussiert stürzte sich das Trio auf verschiedene Aspekte des größten Problems unserer Zeit. Im Falle von “Gregær” und “Solitær” setzten sich The Hirsch Effekt klare förmliche Regeln für die Zusammenstellung und Entstehung der Songs.
“Urian” wirkt vor diesem Hintergrund wie die anklopfende Kreativität, die sich selbst ganz ungebeten und ohne vorherige Kartierung zu Musik hat machen lassen. Das Album klingt über seine zehn Tracks deutlich diverser und ein Stück weit auch entkoppelter als noch “Kollaps”, ein klarer thematischer roter Faden gibt sich nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Dadurch fühlt sich “Urian” aber umso freier und aufbrausender an, wenn es vom Introtrack in sanfter Akustikmanier langsam über den Verlauf des nächsten Songs immer mehr die Härte der Band in den Fokus rückt. Einzelne Elemente, wie die vielen choralen Teile in Songs wie “Otus”, stechen stärker hervor und die Songs sind auch klarer voneinander abgegrenzt. Auch emotional und lyrisch ist “Urian” breiter gefächert, die Blicke richten sich genauso oft nach innen wie nach außen.
Nils Wittrock schafft es in seinen Texten an vielen Stellen, zwischenmenschliche Emotionen so lebensecht und ungekünstelt zu vermitteln, dass einem zwangsläufig ein Kloß im Hals bleibt. Bestes Beispiel hierfür ist “Stegodon”, der in ein paar Zeilen eine wunderschöne Reflektion einer plötzlichen Begegnung mit einem Menschen – mit allen Konflikten, Komplexitäten und Paradoxen, die das mit sich bringt – und das Wirrwarr, das manche Menschen in einem hinterlassen können, perfekt unperfekt beschreibt: du hast gar nichts, nichts zu tun mit meinem plan, und genauso unausdenkbar hab ich mir dich nie vorgestellt. Und deshalb bist du ganz wunderbar. “Du” kann hier eine ungeahnte romantische Begegnung oder eine plötzliche Freundschaft, vielleicht auch die Ankunft eines Kindes sein. Das ist nicht klar, es ist aber auch völlig egal, denn es berührt. The Hirsch Effekt zeigen hier einmal mehr, dass emotionale Leitfähigkeit und musikalische Komplexität sich nicht im Weg stehen müssen.
Letztere fehlt auch hier – wie von der Band nicht anders zu erwarten – nicht. The Hirsch Effekt schlängeln sich auf “Urian” meisterlich durch haufenweise enge Windungen und bringen dabei so viele musikalische Ideen in so wenig Zeit unter, dass beim Zuhören schon mal ein leichter Schwindel aufkommen kann. Mühelos wechseln Songs von epischer Inbrunst zu knurrigem Wutausbruch, schrauben sich in die Höhe, fallen in sich zusammen und erwachsen in einer anderen Facette daraus neu. Jeder einzelne Song ist hier ein kleines Spektakel. Das hat allerdings leider auch zur Folge, dass “Urian” nicht ganz so sehr wie die letzten Alben seinen eigenen Tritt findet. Es ist ein Album aus dem Bauch, sofern man das über eine Band, die so ausgecheckte Musik machen wie The Hirsch Effekt, überhaupt sagen kann. Dieser Umstand macht “Urian” nicht besser oder schlechter, aber eben anders. Und anders ist in jedem Fall erstmal interessant.
Wertung
In seinen zerbrechlichen Momenten erinnert mich “Urian” sehr an das Ende von “Holon: Anamnesis”, das mir auch nach dem hundertsten Hören noch alle Körperhaare zu Berge stehen lässt. Ich liebe auch die politischen, bissigen, wütenden The Hirsch Effekt, aber diese Nachdenklichkeit und Melancholie, die in Songs wie “Agora” und “Stegodon” durchklingt, gefällt mir mindestens genauso gut.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.