Karies und „Alice“: Der Wolf im Schafspelz
15.10.2018 | Sarah Ebert
Zahnschmelz ist das härteste Gewebe im menschlichen Körper. Lediglich Karies vermag es, das wertvolle Material durch beständige Arbeit zu zersetzen. Lange Zeit unbemerkt, erst schleichend aber unaufhörlich nagend, arbeitet Karies sich tiefer und tiefer in die Materie, bis schmerzvoll ein Nerv erreicht wird. Beim Hören von „Alice“ vollzieht sich die gleiche Prozedur. Die Songs dieser Platte kommen auf den ersten Blick bunter und zugänglicher daher.
Das farbenfroh plakative Cover verstärkt den Eindruck noch und signalisiert der aufmerksamen Hörerschaft, dass sich diesmal etwas geändert hat. Nachdem „Seid umschlungen, Millionen“ und „Es geht sich aus“ mit der Aussagekraft und Einfachheit von dunkelgrau bis hellgrau experimentierten und musikalisch rau, düster und wütend klangen, sticht „Alice“ sofort in Auge und Ohr. Doch der vermeintliche Kurswechsel entpuppt sich als Ablenkungsmanöver.
Einmal in den bunteren, experimentelleren und vielseitigeren Bann von „Alice“ gezogen, wird man unfreiwillig Opfer der zersetzenden Kraft von Karies. Lauernd und beschwörend gräbt sich das atmosphärisch ausgefeilte Sound-Ungetüm tief in den Verstand und entfaltet dort seine volle Wirkung, bis man spätestens bei „Altar“ schmerzverzerrt das Gesicht verzieht. Denn es ist vor allem die düstere Grundstimmung, die sich Karies auch auf „Alice“ noch bewahren. Im gleichnamigen Song wird diese dunkle, bedrückende Atmosphäre durch scheinbar schwebende Gitarrenklänge, wabernde Rufe aus dem Background, grollende Basslines und ein konsequent reduziertes Schlagzeug verursacht, die Alice in der Schleife gefangen hält. Der einsetzende Elektro-Beat mit den immer wiederkehrenden Textzeilen verstärkt den erzeugten Loop und zeugt von einer mystischen Ausweglosigkeit.
Der großartige Titel „1987“ greift zunächst das erzeugte Gefühl der Ohnmacht auf, um kurz darauf einen unverschämt leichtfüßigen Swing-Bass erklingen zu lassen, der wiederum genauso schnell von einem wuchtigen Beat, pulsierenden Herzschlägen und Vocoder-Fetzen abgelöst wird. Das bizarre Arrangement changiert zwischen verschiedenen Stimmungen, Motiven und Klängen, die das beschworene Mantra antreiben und so ein fantastisch düsteres Gesamtwerk formen.
Auch „Nebenstraßen“ zeugt von solchen rhythmischen und melodischen Umbrüchen. Aufgewiegelte Gitarren-Riffs und ein sich überschlagender Sprechgesang steigern sich in taumelnde Höhen bis zum plötzlichen Innehalten. Einfache, sich wiederholende Melodien und Textzeilen dienen als Beschwörungsformel und unterstützen den wohldurchdachten Aufbau von gewaltigen Soundwänden und ihre notwendig folgende Dekonstruktion. Was wild, ungezähmt und undurchsichtig erscheint, beruht in Wirklichkeit auf minutiöser Feinarbeit.
Besonders nach mehrmaligem Hörgenuss eröffnet sich einem die herausragende Komplexität, die allzu oft durch Reduzierung und Wiederholung kreiert wird. Karies haben eine Menge Denkarbeit geleistet und auf bemerkenswerte Weise Gegensätze miteinander vereint, die sich beim Hören nicht mal mehr als solche anfühlen. Wuchtig und leicht, düster und grell, treibend und lethargisch, leise und laut, bedrückend und befreiend spielen sie Post-Punk mit einem hohen Beat-Anteil, zahlreichen NDW-Anleihen und vereinzelten Dream-Pop-Ausflüchten. Geisterhafte Chöre, verträumte Melodien, wildes Geschepper, rastlose Kopf-Stimmen, Handclaps, elektronische Klang-Fetzen, filigrane Gitarren, pulsierende Drums und ein dumpfes Grollen vermengen sich zu einem wunderbar homogenen Sound-Ungetüm, das dich beim Hören vollkommen umgibt und unbemerkt am Nervenkostüm nagt - Karies eben.
Wertung
Karies haben sich selbst übertroffen und Melancholie neu buchstabiert. Was da aus den Boxen schallt, klingt so ungewohnt und doch vertraut, dass sich die Nackenhaare wie elektrisiert hochstellen. (Wichtiger Hinweis, um das besagte Gefühl nachzuempfinden: Unbedingt mehrmals hören!)
Wertung
Gerade noch gerettet: „Alice“ ist das Album zwischen Post-Punk und Neuer Deutscher Welle, an dem Drangsal in diesem Jahr gescheitert ist. Und Max Rieger hat‘s produziert – so wird ein Schuh draus.
Sarah Ebert
Sarah lebt in Frankfurt und hat ihr Studium der Germanistik, Philosophie und den Erziehungswissenschaften gewidmet. Sie brennt für gute Musik aller Art, lässt sich aber wohl am ehesten zwischen Punk, Rock & Indie verorten.