Kettcar legen mit „Ich vs. Wir“ den Finger in die Wunde
11.10.2017 | Sarah Ebert
Sie sind wieder da! Das lange Warten hat ein Ende und der deutsche Pop darf sich endlich in Rettung wähnen. Dieses Genre musste in den letzten Jahren viel über sich ergehen lassen: Weichgespülte Inhalte, den Rückzug aus dem aktuellen Weltgeschehen, inhaltsleeres Geschwafel von meinungslosen, frisch frisierten Pop-Sternchen, die am liebsten von purer Lebensfreude, einem Liebes-Wirrwarr oder der Schönheit des Sternenhimmels sangen.
Es war also höchste Zeit, als Kettcar im Juli 2017 verkündeten, ihre bis dato vier Jahre anhaltende kreative Pause zu beenden. Am 13. Oktober dieses Jahres, mittlerweile16 Jahre nach der Bandgründung der Hamburger, wird das fünfte Studioalbum mit dem Titel „Ich vs. Wir“ im Handel erhältlich sein. Und so viel sei bereits gesagt: Kettcar ist ein Meisterwerk gelungen. Sie beziehen Stellung, sind so politisch wie noch nie und erkennen nicht nur die Schieflage im sozialen Gefüge, sondern benennen und kritisieren diese, um ihrer Hörerschaft neue Blickwinkel zu eröffnen und das Resignieren zu verbieten.
Das Album ist insgesamt atmosphärisch so dicht, dass es schwerfällt, einzelne Songs hervorzuheben. Der geschaffene Gegensatz zwischen dem Ich und einem kollektiven Wir zieht sich als inhaltliches Leitmotiv durch die elf Titel des Albums. Konsequent behandeln die Songs die Spannung und Ambivalenz zwischen dem Individuum und einer Gruppe.
Kettcar erzählen in „Wagenburg“, wie durch gefährliche Gruppendynamiken die Ängste des Einzelnen in Aggressivität und Menschenhass umschlagen und sich in Form von PEGIDA-Märschen und AfD-Hetzen äußern können. Gleichzeitig erinnern sie daran, dass hinter jeder aufgewiegelten Gruppe im kollektiven Rausch auch immer einzelne Individuen stehen, die sich vom Mob mitreißen lassen. So politisch und gesellschaftskritisch bleiben Kettcar bei „Mannschaftsaufstellung“, wo sie ein furchterregendes und entlarvendes Bild im Stil von Fußballmetaphern zeichnen, um die Prototypen einer menschenverachtenden Anhängerschaft vorzustellen, „radikal, aggressiv, stolz und national“. „Das Gegenteil der Angst“ beschreibt die innere Zerrissenheit zwischen Aufbegehren und Resignieren, zwischen sich abgrenzen wollen und dennoch Teil des Systems zu sein und liefert ein passendes Bild, um das Leben in Deutschland 2017 zu beschreiben. Kettcar vermögen auszudrücken, was viele von uns in diesen Tagen als diffuses Gefühl quält.
Die bereits vorab veröffentlichte Single „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ hat für großen Zuspruch und Aufsehen gesorgt und kann als Herzstück der Platte bewertet werden. Während die Geschichte eines Fluchthelfers aus der DDR erzählt wird, begeben sich Kettcar nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch auf eine andere Ebene. Sie zeigen, dass Flucht und Migration, ob nun aktuell und global, oder längst vergangen und innerdeutsch, die gleichen Emotionen hervorrufen und aus den nahezu gleichen Gründen passieren – wegen der Hoffnung auf ein besseres, friedliches und sicheres Leben in Freiheit. Humanismus, Empathie und das Einstehen für die Menschenrechte sind Werte, die damals wie heute im Mittelpunkt stehen sollten und den Protagonisten der Geschichte dazu bringen, seine eigene Sicherheit für die flüchtenden Familien zu riskieren. Im Stil einer Kurzgeschichte wird der Großteil des Songs im Sprechgesang vertont, begleitet von einem drängenden Schlagzeug, das stetig und atemlos die Geschichte vorantreibt. Erst im Refrain setzt der melodische Gesang von Marcus Wiebusch ein, der sich jedoch völlig auf die Chorus-Parts beschränkt.
Insgesamt scheinen Kettcar ihre kreative Pause auch zur Weiterentwicklung ihres Sounds genutzt zu haben. Sie haben ein anspruchsvolles Album arrangiert, bei dem es kein stumpfes Beat-Durchhalten gibt. Sie bieten weitaus mehr als den bloßen Wechsel zwischen Strophen und Refrain und begeistern mit ausgeklügelten Bridges, rahmenden In- & Outros, unerwarteten Rhythmusbrüchen und starken harmonischen Stimmungsschwankungen innerhalb der Songs. „Trostbrücke Süd“ stellt sich als besonders eigenwilliger und fesselnder Song heraus. Schwermütig werden die traurigen Schicksale einzelner Individuen besungen, die allesamt mit dem öffentlichen Nahverkehr durch die Stadt fahren. Brüchiger Gesang setzt ein, um nach wenigen Takten von einer ruhigen Akustik-Gitarre getragen zu werden. Ein leises und sanftes Schlagzeug ergänzt den Sound wenig später. Der Refrain wird umgekehrt und stellt die Instrumentalmusik mit einer eingängigen Melodie in den Vordergrund, die während des Songs wiederkehrt und weiter ausgebaut wird. Nach beinahe drei Minuten entsteht Stille, die sich nicht als das Ende des Songs, sondern als Innehalten entpuppt, um dem melancholisch-traurigen Stück eine andere Wendung zu geben. Ein erhabener und tröstender Chorgesang steigert sich mit der Wiederaufnahme des eingängigen Instrumentalparts zum großen Finale und der Feststellung: „Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser!“. Kettcar sind sich unverkennbar treu geblieben und schaffen es noch immer, die Balance zwischen lauteren und leisen, getragenen Tönen und Klängen zu halten, ohne dabei in Kitsch oder gekünstelten Pathos zu verfallen.
Gerahmt wird das Album von menschlichen Lichtblicken. Im ersten Song besingen Kettcar die Synergie der herrschenden Diversität und man wird Zeuge, wie sich die als unerträglich empfundene Menschheit in der „Ankunftshalle“ des Flughafens zu liebenswerten Individuen verwandelt. Aus der Meute werden „unsere Leute“ und die geteilten Umarmungen und herzlichen Begrüßungen der verschiedensten Menschen erhellen die Laune der Beobachtenden.
Am Ende des Albums machen Kettcar noch einmal Mut, und Hooklines wie „von den verbitterten Idioten nicht verbittern lassen“ bleiben im Kopf und tragen einen durch den Alltag, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Sie ermutigen uns, Werte wie Solidarität, Menschlichkeit und Empathie hochzuhalten, standhaft zu bleiben und diese Haltung im eigenen Umfeld aktiv zu leben. Niemand muss die gesamte Welt alleine retten oder sich jedem Problem der Gesellschaft gleichermaßen annehmen. Das können auch Kettcar mit ihrem Album nicht. Aber jeder muss nach seinen Möglichkeiten für das Gute einstehen und sich darauf besinnen, dass ein Ich erst im gemeinsamen Wir die Welt verbessern kann.
Wertung
Was würden wir in diesen Tagen nur ohne Kettcar tun? Spätestens nach dem Hören des Albums wird man feststellen, welch große Lücke die Hamburger in ihrer Abwesenheit hinterlassen haben. So politisch und wichtig wie noch nie kehren sie zurück. Nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch sitzt jeder Song und es bleibt schwer, Kritik zu üben. Einzig der Wunsch, einen Hauch mehr Indie-Rock, als Indie-Pop auf dem Album wiederzufinden, wird nicht vollkommen erfüllt. Doch das fühlt sich hier wie Jammern auf hohem Niveau an.
Sarah Ebert
Sarah lebt in Frankfurt und hat ihr Studium der Germanistik, Philosophie und den Erziehungswissenschaften gewidmet. Sie brennt für gute Musik aller Art, lässt sich aber wohl am ehesten zwischen Punk, Rock & Indie verorten.