Leoniden und „Complex Happenings Reduced To A Simple Design”: DAS ist gute Popmusik
23.08.2021 | Jan-Severin Irsch
Der Song “LOVE” ist ein grooviger Feel-Good Track. Untermalt mit Streichern und einer soliden Bassline regt die Dynamik dazu an, einfach mal zu lächeln, auch wenn der deutsche Sommer mal wieder nur grau in grau ist. Mit einer Chorsektion, die den Hauptgesang doppelt, beweisen die Leoniden nicht nur auf dem Track ihre musikalischen Fähigkeiten. „Funeral“ könnte einen ähnlich starken Karrierelauf wie der gleichnamige Song von Lukas Graham haben. Die hohe Stimme des Sängers, der großartige Groove und die ganzen Nuancen, die sich im Hintergrund über die Strophe legen, zeugen von toller Popmusik.
„Complex Happenings Pt. 1“ ist ein elektronisches Klangerlebnis. Es passiert sehr viel in sehr kurzer Zeit und es darf sich auf insgesamt fünf Parts gefreut werden. Der darauffolgende Track „Home“ ist eine funkige Nummer mit großartigem Klaviereinsatz und sehr minimalistischer Instrumentierung. Im ersten Moment klingt es wie an Anderson .Paak angelehnt, im nächsten Moment nach den Beatstakes. Der Track „Boring Ideas“ mit Drangsal als Feature funktioniert nicht nur über Lautsprecher sondern wird sicherlich auch live die Leute zum Tanzen bringen. Die Strophe klingt wie Royal Blood in Dur, die Bassline im Refrain erinnert an Kraftklub und der Einsatz von der nicht zu viel gesparten Cowbell rundet den ganzen Song ab.
„Complex Happenings Pt. 2“ lädt mit seinen 48 Sekunden auf einen Minimal-Techno-Dancefloor ein, gefolgt vom Song „Dice“, der zu Beginn mit seiner Barbershop ähnlichen Gesangseinlage überzeugt. Die Hälfte des Albums ist erreicht, die Cowbell lässt nach wie vor grüßen und auch der Chor ist wieder toll vertreten. Man will einfach nur noch mitsingen und zuhören, als nur darüber zu schreiben. Welch schöne Musik.
Generell sind die Songs alle so geschrieben, dass sie vermutlich von einer großen Masse an Menschen gemocht werden können. Der bewusste Einsatz von Streichern, sei es als Klangteppich oder vordergründiges Element, der Groove in jedem Stück, die großartige Dynamik - alles sehr komplex in Komposition und Ausführung und doch so leicht und einfach klingend. Der Albumtitel ist an dieser Stelle bitte wörtlich zu verstehen. 21 Songs sind schon eine Hausnummer, aber die Kunst, über diese Zeit jeden Song mit seiner ganz eigenen Klangfarbe und Spannung zu versehen und Hörerinnen und Hörer im Album zu halten, ist eine Meisterleitung. Alle deutschen Singer-Songwriter-Sternchen könnten sich ein großes Vorbild an den Leoniden nehmen.
Das spannende an dieser Platte ist, dass man nie genau weiß, was als nächstes passiert. Die Leoniden verstehen sich in Komposition und Dynamik, in Klangflächen, Songwriting und vielen Extras, die jeden Song einzigartig werden lassen. Kommt der Refrain zum zweiten oder dritten mal, denkt man nicht abwertend „ach, der schon wieder“, vielmehr lässt man sich tragen und hört unvoreingenommen zu, weil jeder Song dazu einlädt. Sobald man verstanden hat, dass dieses Album vollgepackt mit musikalischen Überraschungen ist, hat man sein neues Lieblingsalbum gefunden.
„Medicine“ zum Beispiel wandelt sich durch einen Breakdown im leichten Punk-Stile nochmal gänzlich in sich selbst, um dann zum Ursprung zurückzufinden. „Freaks" (feat. Pabst) ist ein toller Song zum Mitsingen und zum Erinnerungen mit seinen besten Freunden schaffen. Feel-Good pur! Vielleicht eine kleine Hommage an „The Verve“ und ihren Einsatz der Streicher. Der Ausruf „We are the freaks, we stay together“ geht direkt ins Ohr und mündet in Ekstase.
„Complex Happenings Pt. 4“ leutet die Hard-Rock-Phase des Albums ein. Genau wie seine Kollegen ist auch dieser Track sehr kurz und sehr intensiv gehalten. Bevor man weiß, was man gerade gehört hat, kommt bereits der Song „Broken Pieces“, der ebenfalls schneller vorbei ist als man erwartet. Die Gitarrenhook scheint sich am Metall zu orientieren, der Refrain ist in fröhlicher Leoniden-Manier darüber gelegt und siehe da - es klingt klasse!
„Complex Happenings Pt. 5“ erinnert für einen ganz kurzen Augenblick an Rage Against The Machine, bevor das Pizzicato in „Disappointing Life“ den vorletzten Song des Albums vorstellt. Verträumte Rockoper könnte man diesen Song vielleicht nennen, aber am besten entscheidet das jede*r für sich. Aber verdammt noch mal, wie hoch kann dieser Sänger denn singen? Offenbar versucht er sich als Prince 2.0 - diese Höhen sind beeindruckend.
Applaus gibt es im gleichnamigen, abschließenden Song. Die Höhen werden beibehalten und dieser andere "Applaus Applaus"-Track von…irgendwem kann einpacken. Alle Elemente; Chor, Streicher, Groove, Dynamik, Spannung, werden hier noch mal vereint und münden im schlichten Ende von Akustikgitarre und mehrstimmigen Gesang. Ein Klangreise geht vorbei, aber wie gut, dass man heutzutage Musik auf Dauerschleife hören kann.
Wertung
Dieses Album ist wie die Pralinenschachtel bei Forrest Gump - man weiß nie, was man bekommt. Aber wenn man sich schon eine Schachtel kauft, ist man ohnehin für alles zu haben. Und verdammt noch mal, schmeckt dieses Album gut!
Wertung
Rockige Indie-Vibes treffen auf sanfte, verletzliche Sounds. Ein starkes Album, das durch seinen Facettenreichtum einen vielschichtigen Charakter bekommt.
Jan-Severin Irsch
Jan-Severin macht seit er denken kann Musik. Durch verschiedene Chöre, Bands und Lehrer ist er mittlerweile Lehramtsstudent für Musik mit Hauptfach Gesang, ist Sänger seiner eigenen Alternative/Punkrock-Band und Teil eines Barbershop-Chores in Köln. Von Klassik bis Jazz, von Chor- bis Punkrockmusik hört und spielt er alles gern. Ohne Musik geht nicht.